Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

Viardot-Garcia, Garcia-Viardot, Viardot, (Michelle Fernande) Pauline, geb. Garcia

* 18. Juli 1821 in Paris, † 18. Mai 1910 ebd., Pianistin, Organistin, Sängerin und Komponistin. Pauline Viardot-Garcia war eine der berühmtesten Mezzosopranistinnen des 19. Jahrhunderts. Sie war darüber hinaus eine vielfältig begabte und tätige Komponistin, Musikschriftstellerin und Lehrerin und hatte brieflichen und persönlichen Kontakt zu vielen kulturell prägenden KünstlerInnen, Intellektuellen und Politikern des 19. Jahrhunderts. Sie war aber auch eine vorzügliche Klavier- und Orgelspielerin. Ihre Eltern waren Maria-Joaquina Garcia geb. Sitches (1780–1854), Sopranistin, und Manuel del Popolo Vicente Rodriguez Garcia (1775–1832), Tenor, Komponist und Schauspieler, ihre Geschwister der Sänger Manuel Patricio Rodriguez García (1805-1906) und die Sängerin Maria Félicité Garcia, bekannt unter dem Künstlernamen Maria Malibran (1808-1836). Unterricht erhielt Pauline  bereits 1825 bei dem mexikanischen Kirchenorganisten Marcos Vegae während einer Tournee der Familie Garcia durch den amerikanischen Kontinent. Vor allem aber war ihr Vater als Lehrer prägend: Von ihm lernte Pauline, das jüngste Kind des Paares, alles, was professionelle Sängerinnen brauchen, erhielt aber auch eine umfangreiche Ausbildung am Klavier: Solospiel, Begleitung, Transposition und Improvisation. Nach ihrer Rückkehr nach Paris im Jahr 1829 erhielt sie Unterricht bei dem Pianisten Sébastien Arnould Meysenberg. Später wurde ihre pianistische Ausbildung ergänzt durch Camille Saint-Saëns (1835–1921) und Franz Liszt (1811–1886), der ihr empfahl, hauptberuflich Pianistin zu werden. In einem ausführlichen, hauptsächlich der Sängerin gewidmeten Artikel in der „Neuen Zeitschrift für Musik“ nennt Liszt sie „eine treffliche Pianistin, welche mit Partiturspiel und vom Blattlesen der schwierigsten Begleitungen besser umgeht, als mancher concertirende Virtuos“ (NZfM 1859 I, S. 51). Auch Saint-Saëns war voller Bewunderung für das Klavierspiel der berühmten Kollegin: „Als große Freundin von Chopin bewahrte sie von dessen Spiel eine sehr genaue Erinnerung, und sie gab die präzisesten Anweisungen über die Art und Weise der Interpretation seiner Werke. Durch sie habe ich begriffen, daß die Aufführung der Werke des großen Pianisten (eher: des großen Musikers!) viel einfacher ist, als man gemeinhin glauben mag, und daß sie von einem geschmacklosen Manierismus ebensoweit entfernt ist wie von kalter Korrektheit. Durch sie habe ich die Geheimnisse des echten Tempo rubato kennengelernt, ohne das Chopins Musik entstellt wird und das keineswegs den Verrenkungen ähnelt, mit Hilfe derer man allzuoft eine Karikatur daraus macht“ (Saint-Saëns, S. 124).

Nachdem Pauline Garcia bereits seit 1830 im Rahmen der Gesangsstunden ihres Vaters als Klavierbegleiterin tätig gewesen war, erfolgten um 1835 erste öffentliche Auftritte als Begleiterin ihres Schwagers, des Geigers Charles-Auguste de Bériot (1802–1870). Während Clara Wiecks Parisreise 1839 befreundeten sich die Musikerinnen und traten in der Folge auch gemeinsam auf. 1840 heiratete sie den Kunstkritiker, Journalisten, Übersetzer und damaligen Direktor des Pariser Théâtre-Italien Louis Viardot (1800 – 1883). Aus der Ehe gingen vier Kinder hervor (Louise 1841, Claudie 1852, Marianne 1854 und Paul 1857). Im Klavierduo mit Clara Schumann spielte sie bevorzugt das Andante und Variationen für zwei Klaviere op. 46 von Robert Schumann, so zum Beispiel im November 1858 in Pest und 1862  in der Pariser Salle Érard . Camille Saint-Säens erinnert sich 1911: „Das Werk strotzt von Schwierigkeiten, und sie spielten es mit gleicher Virtuosität“ (Saint-Saëns, S. 124). 1865 wirkte die Pianistin Viardot-Garcia zweimal in den von Hugo Heermann in Baden-Baden veranstalteten Kammermusiksoireen mit: Am 29. Mai übernahm sie den Klavierpart in Beethovens Trio D-Dur op. 70 Nr. 1 und am 7. Juni den Klavierpart im Trio B-Dur op. 100 von Schubert. Überwiegend scheint sie sich als Pianistin aber in privatem oder halböffentlichem Rahmen betätigt zu haben. In Baden-Baden stattete sie ihr Musikzimmer auf Vorschlag von Liszt mit zwei Klavieren aus und konnte so mit dem Komponisten seine Faust-Symphonie in der Bearbeitung für zwei Klaviere musizieren. Bei der Uraufführung ihrer Sonate für Klavier und Violine (1874) begleitete sie in der Salle Pleyel in einem Konzert der Société nationale de la Musique Française ihren Sohn Paul (1857–1941) und spielte in demselben Rahmen ihre Introduction et polonaise (1873) vierhändig mit Gabriel Fauré. Als 1877 Edward Griegs Klavierkonzert im privaten Kreis in Frankreich erstmals aufgeführt wurde, war der Solist Pauline Viardot-Garcias Neffe Charles-Wilfrid Bériot (1833–1914), die für Klavier arrangierte Orchesterpartie übernahm sie selbst.

Auch ihr Orgelspiel ist eng mit ihrem persönlichen Umfeld verbunden. 1850 ließ sie sich von dem Orgelbauer Aristide Cavaillé-Coll für ihren Landsitz, Schloss Courtavenel in Rozay-en-Brie, eine Orgel mit 16-Fuß-Register bauen. Das Instrument wurde 1863 beim Umzug nach Baden-Baden in die „Kunsthalle“ ihrer Villa und 1872 nach Paris überführt, als die Sängerin sich dort wieder in der Rue Douai einrichtete. 1885 stiftete sie die Orgel der Collégiale de Notre-Dame in Melun.

Bei der Einweihung der „Kunsthalle“ im Garten der Baden-Badener Villa beurteilte Clara Schumann das Orgelspiel der Kollegin eher kritisch: „Die Orgel klingt wundervoll und hätte einem wohl Freude machen können, wäre sie würdig behandelt gewesen, aber mit dem Pedal konnte Mad. Viardot noch nicht spielen und begann nun mit der Ddur-Fuge […] von Bach, die sich miserabel ausnahm“ (Brief vom 3. Nov. 1864 an Brahms). Ein Holzschnitt von Ludwig Pietsch zeigt eine „Matinee in der Orgelhalle der Villa Viardot in Baden-Baden“ 1865, mit Anton Rubinstein am Flügel, Désirée Artôt und Pauline Viardot-Garcia vor der Orgel, daneben den russischen Dichter Iwan Turgenew und im Publikum die Altistin Aglaja Orgeni, Wilhelm I. und Bismarck. Der Geiger Hugo Heermann, der hinter Rubinstein zu sehen ist, schreibt in seinen Lebenserinnerungen: „Auf dem Bilde lehnt Iwan Turgenjew neben der Orgel – wie oft habe ich den Dichter so erlebt. Einmal war er sofort in liebenswürdigster Weise bereit, den Blasebalg der Orgel zu treten, um mir Frau Viardots Orgelbegleitung zur Bachschen Chaconne (in der Bearbeitung von Mendelssohn) zu ermöglichen“ (Heermann, S. 28). In zwei ihrer Kompositionen (Bearbeitung von Bach-Gounods Ave Maria für Frauenterzett, unveröffentlicht, und ein 1901 gedrucktes Ave Maria pour solo avec chœur ad lib.) hat Viardot die Orgel als Begleitinstrument vorgesehen.

Als Aristide und Louise Farrenc 1861 mit der Edition des Trésor des Pianistes begannen, einer 23-bändigen Anthologie historischer Musik für Tasteninstrumente, war Pauline Viardot-Garcia unter den AbonnentInnen. Es ist allerdings nicht klar, ob dieses 1871 abgeschlossene Sammelwerk und die ebenfalls von ihr abonnierte, 1899 vollendete Alte Bach-Ausgabe ihre interpretatorische Praxis beeinflussten. Auffallend ist, dass sich die Musikerin, als ihre Stimmkraft nachzulassen begann, verstärkt der Komposition von Klavierwerken widmete.

 

Matinee in der Orgelhalle der Villa Viardot in Baden-Baden 1865, Holzschnitt von Ludwig Pietsch.

 

WERKE FÜR KLAVIER

zweihändig: Andantino, 1839; Mouvement de Tarentelle, Paris 1839; Valse, Paris 1855; Deux pièces pour piano: Gavotte et Sérénade, Paris 1885; Au Japon. Pantomime en un acte, Paris 1896; Deux airs de ballet, Paris 1904; Suite arménienne Quand même, Paris 1904; Mazourke, Paris 1905; Alza Pepita! Danse populaire espagnole, Paris 1906

vierhändig: Introduction et Polonaise, Paris 1873; Défilé bohémien, Paris 1905

zahlreiche Werke mit Klavierbegleitung, siehe Werkverzeichnis von Patrick Waddington und Christin Heitmann

 

 

LITERATUR (Auswahl, nur auf die Instrumentalistin bezogen)

AmZ 1840, Sp. 66f.

AWM 1841, S. 585ff.

Bock 1865, S. 222

Der Humorist 30. Nov. 1858

NZfM 1859 I, S. 51, 53; 1865, S. 247

Pesth-Ofner Localblatt 30. Nov. 1858

Paul, Mendel, Baker 1, Grove 2, Ebel, Riemann 11, Sartori Enci, Cohen, Baker 7, New Grove 2001, MGG 2000, Kutsch/Riemens

La Mara [d. i. Marie Lipsius], „Pauline Viardot-Garcia“, in: Musikalische Studienköpfe, 5 Bde., Bd. 5: Die Frauen im Tonleben der Gegenwart, Leipzig 2. Aufl. 1879.

Alfred Michaelis, Frauen als schaffende Tonkünstler. Ein biographisches Lexikon, Leipzig 1888.

Clara Schumann u. Johannes Brahms, Briefe aus den Jahren 1853–1896, hrsg. von Berthold Litzmann, 2 Bde., Bd. 1, Leipzig 1927.

Hugo Heermann, Meine Lebenserinnerungen, Leipzig 1935, Repr. Heilbronn 1994.

April Fitzlyon, The Price of Genius. A Life of Pauline Viardot, London 1964.

Suzanne Desternes u. Henriette Chandet, La Malibran et Pauline Viardot, Paris 1969.

Charles-Camille Saint-Saëns, Musikalische Reminiszenzen, aus dem Französischen übersetzt von Eva Zimmermann, Wilhelmshaven 1979.

Ute Lange-Brachmann u. Joachim Draheim (Hrsg.), Pauline Viardot in Baden-Baden und Karlsruhe, Baden-Baden 1999.

Patrick Barbier, Pauline Viardot, Paris 2009.

Beatrix Borchard, Pauline Viardot-Garcia. Fülle des Lebens (= Europäische Komponistinnen 9), Köln [u. a.] 2016.

Patrick Waddington u. Nicholas G. Žekulin, The Musical Works of Pauline Viardot-Garcia (1821–1910). A Chronological Catalogue,Calgary 2013, Online Edition 2013:  https://prism.ucalgary.ca/server/api/core/bitstreams/61e25e5b-98cc-494c-be97-89f637934fd3/content, Zugriff am 6. Sept. 2023.

Christin Heitmann, Pauline Viardot. Systematisch-bibliographisches Werkverzeichnis (VWV), Hochschule für Musik und Theater Hamburg, seit 2012, Online-Datenbank  https://www.pauline-viardot.de/Werkverzeichnis.htm, Zugriff am 6. Sept. 2023.

 

Bildnachweis

Heermann, S. 27

 

Midori Kobayashi/CB

Übersetzung: Yuko Tamagawa

 

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