Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

Bronsart, Ingeborg (Lena) von, geb. Starck

* 24. Aug. 1840 in St. Petersburg, † 17. Juni 1913 in München, Pianistin und Komponistin. Die Tochter des aus Schweden stammenden Hofsattlers Otto Wilhelm Starck und der gebürtigen Finnin Margarethe Elisabeth geb. Ockermann machte frühe musikalische Erfahrungen im Salon ihrer Eltern. Nach erstem Klavierunterricht mit sieben Jahren setzte sie ihre Ausbildung ab 1850 bei Nicolas von Martinoff (1813–1864) fort, einem Mitglied der höheren russischen Aristokratie und hervorragendem Musiker, der mit Liszt, Thalberg und Adolph Henselt freundschaftlich verbunden war. Im Alter von elf Jahren erhielt sie Kompositionsstunden bei Konstantin Decker (1810–1878), später Klavierunterricht bei Henselt (1814–1889), der als erfolgreicher Pianist und Klavierpädagoge 1887 einer der ersten Professoren des Petersburger Konservatoriums werden sollte. Am 12. Apr. 1853 debütierte Ingeborg Starck zwölfjährig im halböffentlichen Rahmen eines aristokratischen Salons – bei dem Grafen Kuscheleff-Besborodko – , wo sie nicht nur als Pianistin auftrat, sondern auch eine eigene, von ihrem Lehrer instrumentierte Komposition spielte. Nach positiven Reaktionen von Publikum und Kritik konzertierte sie von da an jedes Jahr.

Da ihre Petersburger Lehrer sämtlich Liszt nahestanden, ging Ingeborg Starck im Sommer 1858 nach Weimar, um im Zentrum der damaligen musikalischen Avantgarde ihre Ausbildung zu vollenden. Liszt förderte die Karriere seiner Schülerin nicht nur durch Unterricht, sondern auch durch Kontakte und Empfehlungsbriefe. So schrieb er z. B. am 15. Nov. 1858 einem unbekannten Adressaten: „In meinem Frühlingsboten, Fräulein Stark genannt, werden Sie schnell eine begabte musikalische Natur, und eine ausgezeichnete Pianistin erkennen. Ich empfehle Sie Ihrem Schutz und Wohlwollen“ (Liszt 1984, S. 156). Liszt äußerte sich auch über Eigenschaften ihrer Persönlichkeit, die für ihren Werdegang Voraussetzung waren, nämlich Tatkraft, Fleiß und den Willen, etwas zu erreichen. Er brachte es auf die Kurzformel „Elle a de quoi faire du chemin“ („Sie hat alle Voraussetzungen, um ihren Weg zu machen“, Liszt an Agnes Street-Klindworth, 1. Mai 1859, in: Liszt 2000, S. 345) und schrieb, dass ihr „Talent sich in der letzten Zeit durch fast übermäßigen Fleiß glänzend entwikelt“ habe (Liszt an Emanuel Klitzsch vom 2. Sept. 1859, in: Jung 1987, S. 168). Sie konzertierte öffentlich mit Liszt, der ihr mehrere Werke widmete, darunter das Concerto pathétique für zwei Klaviere (1865). Im anregenden Umfeld der Liszt-Schüler lebte Ingeborg von Bronsart musikalisch am Puls der Zeit: Mit vielen anderen seiner Adepten begleitete sie Liszt z. B. im Juni 1859 auf der Reise nach Leipzig zur Tonkünstler-Versammlung, auf welcher der Beschluss zur Gründung des Allgemeinen Deutschen Musikvereins gefasst wurde.

Während ihrer Lehrzeit bei Liszt lernte sie dessen ehemaligen Schüler Hans Bronsart von Schellendorff (1830–1913) kennen. Die Eheschließung mit ihm im Jahre 1861 führte nicht zur Aufgabe ihrer Karriere: Ingeborg von Bronsart setzte ihre Tätigkeit als reisende Virtuosin zunächst fort und konzertierte häufig gemeinsam mit ihrem Ehemann – sie am Klavier, er am Pult. Zunächst lebten sie in Leipzig, wo Hans Bronsart von Schellendorf die „Euterpe“-Konzerte dirigierte, später leitete er die Abonnementkonzerte in Dresden und Berlin. Ingeborg von Bronsart spielte in vielen Städten Deutschlands und Nordost-Europas, etwa in Wiesbaden, Hamburg, Königsberg, Danzig, Breslau und St. Petersburg, aber auch in Paris. Ihr Repertoire bestand vor allem aus Werken von Liszt, Chopin, Beethoven, Raff und Schumann, doch spielte sie auch Barockmusik, u. a. von Domenico Scarlatti, Händel und besonders von Joh. Seb. Bach. 1862 wurde sie zur Hofpianistin der Kaiserin von Russland ernannt, ein Jahr darauf erhielt sie auch den Titel einer Hannover’schen Hofpianistin.

Als sie sich am 10. Jan. 1863 dem Hannoveraner Konzertpublikum als Pianistin präsentierte, wies sie sich durch ihr Programm, das neben Werken Schumanns, Joh. Seb. Bachs und Chopins auch Liszts Transkription von Gounods Faust-Walzer enthielt, als Anhängerin der Neudeutschen Schule aus. Die „Zeitung für Norddeutschland“ schreibt in ihrer Kritik: „Sie hat sich zunächst in die Chopin’sche Gefühlsweise so hineingelebt, wie wir es selten gehört haben. Der Vortrag dieser Sachen gelang ihr daher auch sehr gut, ebensowohl in den brillanten, als auch in den träumerischen Partien; hin und wieder hätten wir nur etwas mehr Leichtigkeit in dem Vortrage des Concerts gewünscht. Desgleichen trug die Künstlerin das Schumann’sche Stück mit der nöthigen Innigkeit und Zartheit vor. Was sollen wir von dem Liszt’schen Walzer sagen? Liszt selbst würde mit dem Vortrage gewiß sehr zufrieden gewesen sein, aber ein verrückteres Machwerk kann man sich doch kaum denken“ (Zeitung für Norddeutschland, 14. Jan. 1863, zit. nach Voigt-Deutsch 2001/02, S. 137). Am 21. Nov. 1863 stellte sich Ingeborg von Bronsart in Hannover auch als Komponistin vor. Neben einer Ungarischen Rhapsodie von Liszt spielte sie ihr eigenes Klavierkonzert unter der Leitung Joseph Joachims. Ihre pianistischen Fähigkeiten überzeugten, während die Komposition nicht den Beifall des eher konservativen Hannover’schen Publikums fand: „Frau von Bronsart spielte ein auf immense Fingerfertigkeit angelegtes eigenes Concert, welches kühl aufgenommen wurde, während sie mit der ungarischen Rhapsodie viel Beifall erntete“ (Fischer 1899, S. 343). Nach Information La Maras (d. i. Marie Lipsius) wurde das virtuose Konzert, das verschollen ist, ob seiner „stark Wagner-futuristischen Färbung“ (La Mara, S. 137) von der Kritik abgelehnt. Der musikästhetisch-publizistische Parteienstreit dieser Jahrzehnte zwischen den Anhängern von Brahms auf der einen und den Anhängern von Liszt auf der anderen Seite schlägt sich auch in den Rezensionen nieder. Während die „Neue Zeitschrift für Musik“ als Organ der „Neudeutschen“ ausschließlich positive Beiträge zu Bronsart bringt, wird in der Leipziger „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ Reserviertheit spürbar. Über das 12. Abonnementkonzert in Leipzig am 7. Jan. 1864 heißt es hier: „Frau von Bronsart erwies sich übrigens als eine Pianistin von durchgebildeter Technik, der es nur an eigentlich musikalischem Gefühl zu fehlen scheint, denn ihre Tonbildung ist zuweilen hart und entbehrt der Schmiegsamkeit an den musikalischen Gedanken […]. Am besten spielte sie eine Novelette von R. Schumann; weniger trefflich gelang eine Nocturne von Chopin, und am wenigsten gefiel uns der etwas hölzerne und jedenfalls zu schleppende Vortrag der D-moll-Gavotte von Bach“ (AmZ 1864, Sp. 38). Die „Signale für die musikalische Welt“ waren etwas anderer Meinung: „Sie [Ingeborg von Bronsart] spielte alle diese Sachen mit gewandter, klar ausgeprägter Technik und mit gutem Verständnis, hatte auch demgemäß reichen und verdienten Beifall“ (Signale 1864, S. 51). In späteren Jahren vertrat Ingeborg von Bronsart – wie ihr Mann – keine extreme ästhetische Position mehr und zählte neben Liszt auch Brahms zu ihren musikalischen Leitbildern.

Nach der Ernennung Hans von Bronsarts zum Intendanten des Königlichen Hoftheaters in Hannover 1867 durfte Ingeborg von Bronsart als Gattin eines höheren preußischen Beamten nicht mehr öffentlich auftreten und konzertierte nur noch zu wohltätigem Zweck oder bei besonderen Anlässen wie verschiedenen Besuchen Franz Liszts in Hannover. So spielte sie anlässlich der 14. Tonkünstler-Versammlung des Allgemeinen Deutschen Musikvereins im Mai 1877 mit Liszt Camille Saint-Saëns’ Variationen über ein Thema von Beethoven op. 35 für zwei Klaviere und Liszts Concerto pathétique.

1864 wurde die Tochter Clara, vier Jahre später der Sohn Fritz geboren, und der Schwerpunkt ihres musikalischen Wirkens verlagerte sich zunehmend auf das Komponieren. Schrieb sie zuvor vor allem für ihr eigenes Instrument, so komponierte und publizierte sie nun Lieder und verschiedene Charakterstücke für Violoncello oder Geige und Klavier. Beides fand seinen Aufführungsrahmen im Salon der Bronsarts, in dem neben den Gastgebern u. a. Amalie und Joseph Joachim, Hans von Bülow und Aglaia Orgeni musizierten. Den höchsten Stellenwert hatte für sie selbst aber die Opernkomposition. Sie komponierte vier Opern, von denen drei zur Aufführung gebracht wurden: Die Göttin von Sais (Manuskript), Jery und Bätely, Hiarne und Die Sühne. Einen großen Bühnenerfolg errang sie mit dem Einakter Jery und Bätely (auf einen Text von Goethe), der 1873 am Weimarer Hoftheater uraufgeführt und an über zehn weiteren Bühnen nachgespielt wurde. Die Oper Hiarne wurde im Nov. 1890 erstmalig in der Berliner Hofoper und anschließend auf fünf weiteren Bühnen aufgeführt. Die Sühne wurde 1909 in Dessau zur Uraufführung gebracht. Der Gesamteindruck der Oper Die Sühne „war für die Kritik wenig günstig, und die Aufnahme der Novität seitens des großen Publikums kam über den Charakter eines bescheidenen Achtungserfolges nicht hinaus“ (FritzschMW 1909, S. 94). Hingegen erhielt Ingeborg von Bronsart „als Auszeichnung für die Composition der Oper ‚Hjarne‘ die goldene Medaille für Kunst und Wissenschaft 2. Classe vom Grossherzog von Weimar verliehen“ (FritzschMW 1893, S. 376). 1887 zog das Paar nach Weimar, wo Hans von Bronsart den Intendantenposten übernahm; nach seiner Pensionierung 1895 verbrachten sie ihren Lebensabend in München und Pertisau.

 

WERKE FÜR KLAVIER SOLO

Trois études, St. Petersburg 1855 (Bernard)

Nocturne, St. Petersburg 1855 (Bernard)

Tarantella, St. Petersburg 1855 (Bernard)

Kaiser-Wilhelm-Marsch, Berlin 1871

Vier Clavierstücke, Mainz 1874

Elegie für Violoncello und Klavier op. 14, Leipzig 1879 (NA: Körborn o. J.)

Phantasie in gis-Moll op. 18, Leipzig 1891

 

WERKE FÜR KLAVIER UND ORCHESTER

Klavierkonzert f-Moll, 1863 [verloren]

 

LITERATUR

AmZ 1863, Sp. 850; 1864, Sp. 37f., 122f., 331

Berliner AmZ 1866, Sp. 65; 1871, Sp. 478

Bock 1863, S. 38, 54, 364; 1864, S. 13, 245, 379; 1865, S. 14, 30, 60, 116, 132, 213; 1866, S. 20f.; 1873, S. 110; 1876, S. 173f.; 1884, S. 398; 1887, S. 78

FritzschMW 1890, S. 356; 1892, S. 70, S. 107; 1893, S. 309, 376; 1909, S. 94; 1910, S. 219

NZfM 1861, S. 131; 1862 I, S. 140; 1863 II, S. 163, 173, 219; 1873, S. 222, 281; 1877, S. 10, 233f.; 1883, S. 186, 208, 266; 1883, S. 537; 1884, S. 119, 132, 148, 167; 1885, S. 200, 259; 1887, S. 110, 122, 568; 1888, S. 36; 1889, S. 336; 1890, S. 37-39, 334, 367, 553-555; 1891, S. 80, 87, 95, 120, 127, 180, 272, 461; 1892, S. 56, 85f., 432, 449; 1893, S. 91, 199, 367; 1895, S. 233f., 494; 1898, S. 141, 193-195; 1899, S. 150, 193, 328

Signale 1863, S. 122; 1864, S. 51, 535; 1865, S. 181, 218, 506; 1893, S. 569; 1913, S. 1006

Wiener Abendpost (Beilage zur Wiener Zeitung) 21. Juni 1913

Mendel, Grove 5, Cohen, GroveW, MGG 2000, New Grove 2001

La Mara [d. i. Marie Lipsius], „Ingeborg von Bronsart“, in: Die Frauen im Tonleben der Gegenwart (= Musikalische Studienköpfe 5), Leipzig 2. Aufl. 1882, S. 125–144.

Elise Polko, „Ingeborg von Bronsart. Biographisches Skizzenblatt“, in: NZfM 9 (1888), S. 142–143.

Wilhelm Asmus, „Ingeborg von Bronsart“, in: NZfM 65 (1898), S. 193–195.

Georg Fischer, „Opern und Concerte im Hoftheater zu Hannover bis 1866“, Hannover [u.a.] 1899.

Morsch, Anna, „Ingeborg von Bronsart“, in: Gesangspädagogische Blätter 4 (1910), S. 100–102.

Adolph Kohut, „[Nachruf auf Ingeborg von Bronsart]“, in: Hannoverscher Courir 6. Nov. 1913.

Liszt in seinen Briefen. Eine Auswahl, hrsg. von Hans Rudolf Jung, Berlin 1987.

Franz Liszt and Agnes Street-Klindworth: A Correspondence 1854–1886, hrsg. von Pauline Pocknell (= Franz Liszt studies series 8), Hillsdale [u. a.] 2000.

Elfriede Voigt-Deutsch, „Ingeborg von Bronsart und die Wohltätigkeits-Matinée am 18. April 1880 von Johannes Brahms und Joseph Joachim für den Vaterländischen Frauenzweigverein Hannover“, in: Hannoversche Geschichtsblätter NF 55/56 (2001/02), S. 117–155.

James Deaville, „Ingeborg von Bronsart, in: Women Composers: Music Through the Ages 7, hrsg. von Sylvia Glickman, New York 2003, S. 253–287.

Katharina Hottmann, Ingeborg von Bronsart (2004), in: MUGI. Musik und Gender im Internet, http://mugi.hfmt-hamburg.de/, Zugriff am 28. Jan. 2011

Katharina Hottmann, „Musikalische Professionalisierung im Konfliktfeld der Familie. Ingeborg, Hans und Clara von Bronsart“, in: Musik mit Methode. Neue kulturwissenschaftliche Perspektiven, hrsg. von Corinna Herr und Monika Woitas (= Musik – Kultur – Gender 1), Köln [u. a.] 2006, S. 75–90.

Katharina Hottmann, Frisch auf zum letzten Kampf und Streit, ihr Männer all’ und Knaben. Patriotische Lieder Ingeborg von Bronsarts im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71“, in: Deutsche Frauen, deutscher Sang – Musik in der deutschen Kulturnation, hrsg. von Rebecca Grotjahn (= Beiträge zur Kulturgeschichte der Musik 1), München 2009, S. 79–104.

Katharina Hottmann, „Ingeborg von Bronsart“, in: Lexikon Musik und Gender, hrsg. von Annette Kreutziger-Herr und Melanie Unseld, Kassel 2010, S. 160.

 

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