Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

Tschetschulin, Agnes

* 24. Febr. 1859 in Helsinki, † 23. Apr. 1942 in Stockholm, Violinistin und Komponistin. Agnes Tschetschulin war eine von vier Töchtern des finnischen Kaufmanns Feodor Tschetschulin (1818−1871) und seiner Ehefrau, der gebürtigen Schwedin Hilda (Axelina) Maria geb. Eckstein († 1916). Von ihren drei Schwestern, Maria (1852−1917), Mélanie (1867−1952) und Eugénie († 1942), erlangte Maria als erste Studentin in Finnland einige öffentliche Aufmerksamkeit. Mélanie und Eugénie wurden Musik- und Sprachlehrerinnen. Im Elternhaus erfuhren die Schwestern eine frühe musikalische Sozialisation. Hilda Tschetschulin veranstaltete im eigenen Haus regelmäßige Salons, in denen auch musikalische Beiträge geboten wurden.

Einer der ersten Lehrer Agnes Tschetschulins war der Violinist Gustav Adolf Niemann (1841−1881). Seit 1882 studierte die Musikerin an dem in diesem Jahr eröffneten Helsingfors Musikinstitut (heute Sibelius Academy) Violine und Ensemblespiel bei Anton Sitt d. J. (1847−1929), außerdem Musiktheorie und Komposition bei Martin Wegelius, dem Direktor des Instituts, und besuchte zudem eine Klavierklasse. Während ihrer Studienzeit trat sie in den öffentlichen Konzerten der Einrichtung auf und fand als Pianistin und Violinistin bereits mediale Aufmerksamkeit. Bei einer Veranstaltung der Hochschule im Dez. 1882 trug sie u. a. den 1. Satz aus einem Violinkonzert von Rode und den 1. Satz aus Beethovens Klavierkonzert Nr. 3 c-Moll op. 37 vor. 1885 beendete Agnes Tschetschulin als eine der ersten vier AbsolventInnen ihr Studium am Helsingfors Musikinstitut und beabsichtigte anschließend nach Berlin zu gehen.

 

Geigenlehrer Mitrofan Wasiljeff mit StudentInnen des Helsingfors Musikinstitut, vermutlich 1885, v. r. n. l.: Agnes Tschetschulin, Gunnar Bergroth, Anna Tigerstedt, Mitrofan Wasiljeff, Jean Sibelius, ein unbekanntes Mädchen, Elin Warnhjelm, geb. Lönnblad.

 

Finanziell mit einem staatlichen Stipendium („reseunderstöd“, Helsingfors Dagblad 24. Dez. 1885) in Höhe von 1000 Fmk ausgestattet, reiste die Violinistin gegen Ende des Jahres nach Deutschland und setzte ihre Instrumentalausbildung bis 1889 an der Königlichen Hochschule für Musik in Berlin zunächst bei Emanuel Wirth (1842−1923) und ab dem zweiten Studienjahr bei Joseph Joachim (1831−1907) fort. Außerdem erhielt sie Kompositionsunterricht von Heinrich von Herzogenberg (1843–1900) und Woldemar Bargiel (1828−1897) und besuchte die Veranstaltungen des Musikwissenschaftlers Philipp Spitta (1841−1894). Auch 1886 erhielt sie eine finanzielle Unterstützung aus der finnischen Staatskasse in Höhe von 800 Fmk.

Im Sommer 1887 berichten skandinavische, englische und deutsche Zeitungen von der Gründung eines von der Konzertdirektion Hermann Wolff vertretenen Streichquartetts, das in der folgenden Wintersaison sein Debüt feiern sollte: „Die renommirte Violinistin Fräulein Marie Soldat übernimmt die erste Violine, Fräulein Agnes Tschetschulin, eine junge Finnländerin und Schülerin Joachim’s, die zweite Violine, Fräulein Gabriele Roy die Bratsche und Miß [Lucy] Campbell das Violoncello. Das Quartett wird in Berlin drei Soiréen veranstalten und dann eine größere Concerttournée durch Deutschland unternehmen“ (Signale 1887, S. 602). In einem der ersten Konzerte am 23. Okt. 1887 in Halberstadt wurde Agnes Tschetschulin durch die Violinistin Marie Schumann, eine weitere Joachim-Schülerin und Kommilitonin, vertreten. In der nächsten Zeit konzertierte das Quartett mehrfach in Berlin, Neubrandenburg (26. Okt. 1887) sowie in Stettin (Frühjahr 1888), Danzig und Posen. Aus Presseberichten geht hervor, dass Marie Schumann wiederholt die 2. Violine im Ensemble übernahm − etwa bei dem Konzert in Danzig. Agnes Tschetschulin hat sich nebenher vermutlich auch weiterhin solistisch hören lassen. Im Nov. 1888 merkt die Zeitung „Finland“ an: „Hon har nyligen uppträdt med några solonummer i en mindre stad i närheten af Berlin [...]. Snart skall hon åter företaga en liten konsertresa såsom medlem i fröken Soldats stråkqvartett („Sie ist vor kurzem mit ein paar Solonummern in einer Stadt in der Nähe von Berlin aufgetreten. […] Bald unternimmt sie eine kleine Konzertreise als Mitglied des Streichquartetts von Frau Soldat“, Finland 23. Nov. 1888). Die hier angekündigte Konzertreise führte die Musikerinnen u. a. nach Frankfurt a. M. (4. Nov. 1888), Karlsruhe, Erfurt (6. Dez. 1888), Wiesbaden (7. Dez. 1888), Coburg, Regensburg und Nürnberg. Auf den Konzertprogrammen standen Streichquartette von Ludwig van Beethoven (Nr. 3 D-Dur op. 18 Nr. 3; Nr. 4 c-Moll op. 18 Nr. 4; Nr. 5 A-Dur op. 18 Nr. 5; Nr. 10 Es-Dur op. 74), Joseph Haydn (Nr. 32 C-Dur op. 33 Nr. 3 Vogelquartett) und Felix Mendelssohn (Nr. 1 Es-Dur op. 12). Nach einem Auftritt des Quartetts am 7. Dez. 1888 in Wiesbaden ließ ein Rezensent der „Neuen Zeitschrift für Musik“ bekannte Vorurteile gegenüber Musikerinnen anklingen: „Wenn das jugendliche Ensemble noch nicht immer die nöthige Freiheit und Sicherheit des Zusammenspieles zu entwickeln vermag, so verdient doch schon der lobenswerthe Vorsatz, sich dieser ernstesten Kunstgattung, bei der es am allerwenigsten persönliche Lorbeeren zu holen giebt, mit Achtung aufgenommen zu werden. Ob sich das Damenstreichquartett in seiner künstlerischen Reife und Leistungsfähigkeit voll bewähren, den besseren Quartettvereinigungen seiner männlichen Collegen ebenbürtig erweisen wird, ist eine Frage, deren Lösung wir galanter Weise der Zukunft überlassen wollen“ (NZfM 1889, S. 91f.).

Das Quartett hatte nicht lange Bestand − kurze Zeit nach seiner ersten Konzertreise löste es sich, nach etwa eineinhalbjähriger Konzerttätigkeit, wieder auf. Anlass hierfür war der Entschluss Marie Soldats, den k. u. k. Polizeioberkommissar Wilhelm Röger zu heiraten. Spätestens nach der Eheschließung im Juli 1889 zog sich die Musikerin für einige Zeit aus dem öffentlichen Konzertleben zurück und ging mit ihrem Mann nach Wien.

Agnes Tschetschulin trat Ende der 1880er Jahre als Komponistin hervor. Ihr Œuvre umfasst Werke für Violine und Klavier sowie Lieder, außerdem Chor- und Orchesterwerke sowie Unterrichtsliteratur. Viele der Werke sind verschollen. Einige der Instrumentalkompositionen wurden ab 1888 durch den Musikverlag Simrock in Berlin herausgegeben. Vor allem die Berceuse sowie Alla Zingaressa (beides für Violine und Klavier) erfuhren eine weite Verbreitung und waren nicht nur auf Konzertprogrammen in Deutschland und der Heimat der Künstlerin zu finden, sondern wurden auch in den USA rezipiert.

1889 reiste Agnes Tschetschulin nach England. Dass dies auf Empfehlung ihres Lehrers Joachim geschah, der sich selbst regelmäßig mehrere Monate im Jahr in Großbritannien aufhielt, liegt nahe. Im Sommer 1890 konzertierte die Violinistin vor den englischen Prinzessinnen: „The Princesses had a small concert at Marlborough House, where Mdlle. Römer sang and Mdlle. Tschetschulin played the violin“ (The Graphic 5. Juli 1890).

1890 verließ sie England, um gegen Ende des Jahres bzw. Anfang 1891 nach Skandinavien zurückzukehren. In der folgenden Zeit sind einige Auftritte in Helsinki belegt. Am 19. Febr. 1891 veranstaltete die Violinistin zusammen mit dem Orkesterföreningens Stråkorkester unter der Leitung von Robert Kajanus sowie mit Wilhelm Humphrey Dayas (Klavier), Johann August Halvorsen (Violine) und Abraham Ojanperä (Bariton) ein Konzert im Solennitetssaal. Mit Johann August Halvorsen trug sie das Konzert für zwei Violinen d-Moll von Joh. Seb. Bach vor und spielte darüber hinaus Giuseppe Tartinis Teufelstrillersonate g-Moll op. 1 Nr. 10, das „Preislied“ aus Richard Wagners Meistersingern in der Bearbeitung von August Wilhelmj, eine Mazurka von Henryk Wieniawski und ihre Berceuse für Violine und Klavier. Am 21. März 1891 folgte ein weiterer Auftritt Agnes Tschetschulins in einem Populär Konsert im Brandkårshuset in Helsinki.

 

Agnes Tschetschulin, Photographie.

 

Einige Wochen später reiste die Künstlerin ein weiteres Mal nach England. Im Mai wandte sie sich in einem Brief aus London an ihren ehemaligen Lehrer Joseph Joachim: „Aller Anfang ist schwer, und so werde auch ich hier manches zu bekämpfen haben, aber hoffentlich werde ich doch durchkommen, es gehört nur immer eine gewisse Zeit ehedem man etwas erlangen kann. Leider sagt man dass diese Saison nicht sehr brillant werden wird, da die Influenza in einer Menge Familien ein treuer Gast ist. […] Bei Ihren Verwandten bin ich noch nicht gewesen, aber werde nächstens hingehen“ (Brief vom 26. Mai [1891]).

Wie das schwedische Blatt „Nya Pressen“ berichtet, folgte die Musikerin kurze Zeit später einem Ruf als Geigenlehrerin an das Cheltenham Ladies’ College, einem von der Suffragette und Reformpädagogin Dorothea Beale geführten Internat, dessen Curriculum auch eine umfassende musikalische Bildung vorsah: „Violinisten fröken Agnes Tschetschulin har från instundande höst erhållit anställning som professor i violinspel vid eit stort och mycket ansedt Ladies College i Cheltenham, där elevernas antal är icke mindre än 600“ („Die Violinistin Frau Agnes Tschetschulin hat zum nächsten Herbst eine Anstellung als Lehrerin für Violinspiel an dem großen und hoch angesehen Ladies College in Cheltenham erhalten, wo die Anzahl der Schülerinnen nicht unter 600 liegt“, Nya Pressen 30. Juni 1891). Tschetschulin selbst schrieb an Joachim: „Ermutigt durch Ihre freundliche Äusserung, ‚dass es Sie freuen wird zu hören wenn es mir gut ginge in England‘ erlaube ich mir Ihnen mitzutheilen dass ich in der glücklichen Lage bin obiges zu bestätigen. Ich habe vom nächsten Herbst an ein sehr vortheilhaftes Engagement als Violinlehrerin an dem ‚Ladies College‘ in Cheltenham, und ebenso habe ich eine Aufforderung mich an dem Streichquartett von Mrs Shinner-Lidell zu betheiligen, welcher ich folgen werde. Ich hoffe somit dass ich mich in meinem Wirkungskreise und in meiner neuen Heimath recht wohl fühle, doch werde ich aber stets an die schöne Zeit in Berlin mit Dankbarkeit zurückdenken in welcher ich das Glück hatte bei Ihnen verehrter Herr Professor zu studieren“ (Brief an Joseph Joachim vom Juli 1891).

In einem Kammerkonzert von Agnes Miller am 17. Dez. 1891 in der Birminghamer Masonic Hall trat Agnes Tschetschulin, wie im Brief angekündigt, erstmals mit dem Shinner-Quartett, bestehend aus Emily Shinner verh. Liddell (1. Violine), Viola Gates (Viola) und Florence Hemmings (Violoncello), auf. Mit dem Vortrag von Felix Mendelssohns Streichquartett Nr. 4 e-Moll op. 44 Nr. 2, Georg Friedrich Händels Duett g-Moll für zwei Violinen op. 2 sowie einem Klavierquartett von Brahms fanden die Musikerinnen seitens der anwesenden Vertreter der englischen Presse eine größtenteils beifällige Aufnahme. Über Händels Duett schreibt der Rezensent der „Birmingham Daily Post“, der zuvor die Programmauswahl als wenig überraschend charakterisiert hatte: „Bolder and less conventional was the duet for two violins by Handel. This we do not remember having heard before. It consists of four movements − andante, allegro, largo, and allegro − each being led off by the second violin. In this Miss Tschetschulin displayed a full tone, and free style of bowing. The largo marches on with antique grace, and the whole is full of spirit, certain passages and cadences revealing the hand that penned the music of the ‚Messiah.‘ Miss Shinner, as first violin, played in her best manner, and was worthily seconded by the other lady“ (Birmingham Daily Post 18. Dez. 1891). In den „Musical News“ heißt es: „Mendelssohn’s E minor Quartet was rendered most skilfully, and with the utmost refinemet. The violoncello playing of Miss Hemmings, the beautiful viola tone of Miss Cecilia Gates, and that of Miss Shinner and Miss Tschetschulin in a violin duet of Handel gave great pleasure“ (Musical News 1891, Dez., S. 863).

Agnes Tschetschulin war mittlerweile in England sesshaft geworden. Der britische Census aus dem Jahr 1901 führt sie als Anwohnerin von Cheltenham. Zwischenzeitlich bereiste die Violinistin ihre Heimat und ließ sich auch hier hören. Die Zeitung „Hufvudstadsbladet“ verweist auf ein Konzert am 12. Sept. 1895 in den Teateresplanaden. 1904 siedelte die Geigerin nach London über, wo sie für die nächsten Jahre als Geigerin, Komponistin und Geigenlehrerin wirkte und sich in einem großen Netzwerk von vornehmlich Kolleginnen bewegte. Ebenfalls 1904 erlangte sie die englische Staatsbürgerschaft. Zur Zeit des Ersten Weltkriegs kehrte Agnes Tschetschulin für einige Zeit nach Finnland zurück. Anfang der 1920er Jahre ließ sie sich in Stockholm nieder und war hier weiterhin als Lehrerin, Kammermusikerin und Komponistin tätig.  

 

WERKE

Marsch tillegnad Finska Gardet vid dess återkomst från kriget 1877–78, 1878, für Klavier, auch als Arrangement für Bläserensemble; Berceuse für Violine und Klavier, Berlin: Simrock 1888; Alla Zingaressa. Morceau charactéristique für Violine und Klavier, 1891; Mazurka; Valse gracieuse für Klavier, Berlin: Simrock 1897; Gavotte für Violine und Klavier, Berlin: Simrock o. J., auch als Arrangement für Violine und Orchester; Stimmungsbild für Klavier, Helsinki o. J.; Vöyrin poikien marssi, Marsch, 1918; Britain’s Sons, Marsch für Orchester, 1921; Romanze für Violine und Klavier

 

LITERATUR

Briefe von Agnes Tschetschulin an Joseph Joachim vom 26. Mai [1891] und Juli 1891, Staatliches Institut für Musikforschung Stiftung Preußischer Kulturbesitz zu Berlin, Samlung SM 12 Briefnachlass Joseph Joachim, Signatur: Doc. Orig. Agnes Tschetschulin 01 / 02

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Åbo Underrättelser 18. Dez. 1882

The Albany Evening Journal [New York] 11. Jan. 1919

Aura 1891, 4., 7. März

Birmingham Daily Post 1891, 12. Nov., 3., 15., 18. Dez.

Bock 1887, S. 206; 1888, S. 304

Brooklyn Daily Eagle 18. Mai 1919

Buffalo Courier 15. Febr. 1924

Catalog of Copyright Entries. Part 3: Musical Compositions 1934, S. 57

Cremona 1907, Juni, S. 70

The Daily Argus [New York] 19. Apr. 1930

The Evening Leader [New York] 1932, 23. Febr., 8. März

The Evening Post [New York] 18. Okt. 1870

Finland 1885, 10. Okt.; 1886, 3. Juni, 12. Dez.; 1888, 6. Apr., 22. Aug., 23. Nov.; 1889, 21. Okt.; 1891, 2., 17., 18. Febr., 19. März

Finlands Allmänna Tidning 1885, 10. Okt.; 1886, 5. Jan.

Folkwännen 24. Dez. 1885

FritzschMW 1889, S. 169; 1890, S. 174

The Graphic [London] 5. Juli 1890

Helsingfors 16. Dez. 1882

Helsingfors Aftonblad 21. Sept. 1894

Helsingfors Dagblad 24. Dez. 1885

Hufvudstadsbladet 1870, 19. Mai; 1883, 16. Dez.; 1886, 12. Dez.; 1887, 5. Juli; 1888, 24. Nov.; 1891, 20. Febr., 19. März, 13., 29. Juni; 1895, 14. Sept.; 1897, 27. Juli; 1898, 23. Dez.; 1909, 6. Febr.

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Bildnachweis

Sibelius Museum, Turku, Finland, mit freundlicher Genehmigung, http://www.sibeliusmuseum.abo.fi/Sibelius/EN/2.htm, Zugriff am 31. Juli 2013.

Sibelius Museum, Turku, Finland, mit freundlicher Genehmigung, http://trip.abo.fi/cgi-bin/thw?${maxpage}=11&${html}=postliste&${oohtml}=poste&${APPL}=musicpic&${BASE}=musicpic
&originator=%27Holloway%27, Zugriff am 13. Dez. 2013.

 

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