Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

HeymannHejmann, Johanna

* 1873 wahrscheinlich in Amsterdam, † nach 1938 (ebd.?), niederländische Pianistin. Ihr Vater Isaak Heymann (1836–1906) war als jüdischer Kantor in verschiedenen polnischen Städten (Wieleń, Grudziadz, Gniezno) tätig gewesen, bevor er 1854 in Amsterdam ein Amt als Oberkantor antrat. Von seinen sieben Töchtern und vier Söhnen machten sich außer Johanna auch der Pianist Carl Heymann (1854–1922) sowie die Sängerinnen Louise Heymann (verh. Göttinger-Heymann, 1861–1942) und Sophie Heymann (verh. Engel-Heymann, 1874–?) in der Musikwelt einen Namen. Johanna wurde in Amsterdam zunächst von Julius Röntgen (1855–1932) unterrichtet und Presseberichten von 1890 und 1891 zufolge anschließend von Eugène d’Albert (1864–1932; Algemeen Handelsblad 30. Dez. 1890, NZfM 1891, S. 360). 1983 bezeichnet sie der „Musical Standard“ als „pupil of [Heinrich] Barth“ (1847–1922, Musical Standard 1893 II, S. 389).

Erste Auftritte sind 1886 in Amsterdam belegt, zusammen mit ihrer Schwester Louise, wobei sich der Hinweis, es handle sich um „Schwestern vom Claviervirtuosen Carl Heymann“ (NZfM 1886, S. 459), auch in der zukünftigen Berichterstattung regelmäßig wiederholt. „Die 13jährige Schwester [der Sängerin L. H.] ist ein Phänomen auf dem Clavier. Zu bewundern ist es, wie diese kleine reizende Figur sich in aller Ruhe an den großen Concertflügel setzt und das Cdur-Concert von Beethoven und Mendelssohn’s Capriccio mit Orchesterbegleitung aus dem Gedächtniß ausgezeichnet vorträgt und mit ihrer eigenen aber angemessenen Auffassung noch kleinere Solosachen von Bach, Scarlatti, Schubert, Mendelssohn u. s. w. zu hören giebt. Versichern darf ich, daß es keine Treibhauspflanze, sondern eine echte Künstlernatur ist, die das Schönste für die Zukunft ohne Zweifel erwarten läßt“ (ebd.). Es folgten Konzertreisen nach Elberfeld (1891), Wiesbaden (1892), Berlin (Sept. bis Nov. 1893), Leipzig (17. Nov. 1893), Dresden (Ende 1893) und Hamburg (Ende 1893). Nach dem Vortrag des Klavierkonzerts Nr. 4 G-Dur von Beethoven und des Klavierkonzerts  Nr. 2 d-Moll von Mendelssohn mit dem Berliner Philharmonischen Orchester stellten die „Signale für die musikalische Welt“ fest: „Fräulein Heymann darf zu den bemerkenswerthen jüngeren Claviertalenten gezählt werden“ (Signale 1892 S. 376), während die „Neue Berliner Musikzeitung“ sie nach dem Wiesbadener Konzert als eine „begabte Klavierspielerinbezeichnete, „deren Talent besonders zum Vortrag des graziösen und anmuthigen hinneigt, und nach dieser Richtung hin bemerkenswerth beanlagt ist“ (Bock 1892, S. 683). Nach dem Leipziger Konzert von 1893 – die Musikerin war inzwischen 16 Jahre alt – wurde sie in der „Neuen Zeitschrift für Musik“ ausführlich als „gründlich gebildete Künstlerin“ und „eine Pianistin ersten Ranges“ (NZfM 1893, S. 492) gewürdigt, während der Kritiker der „Signale“ sich durchaus unzufrieden zeigte: „Ueber ihr hiesiges Auftreten uns günstig auszusprechen, sind wir leider nicht in der Lage. Es wiederholt sich nämlich bei ihr der Umstand – den wir, wiederum leider, heutzutage so oft zu beklagen haben – daß bedeutende, ja blendende technische Fertigkeit nicht mit eigentlicher Schönheit des Spieles gepaart ist, und daß dieses letztere in einem total verzerrten und verzwickten, von Uebertreibungen aller Art wie von Gleichgiltigkeiten gegen rhythmisches und musikalisches Gefühl strotzenden Vortrag gipfelt. Wie wir Julius Röntgen kennen, scheint es uns ganz unmöglich, daß Fräulein Heymann so wie sie jetzt sich giebt aus seiner Schulung entlassen worden ist; es muß also angenommen werden, daß die junge Dame erst nach absolvirter Lehrzeit und durch falsche Rathschläge und Vorbilder auf künstlerische Irr- und Abwege gerathen ist“ (Signale 1893, S. 948). Auf dem Programm standen Solo-Kompositionen von Robert Schumann, Wolfgang Amadeus Mozart, Franz Liszt, Domenico Scarlatti, Frédéric Chopin, Felix Mendelssohn, Carl Heymann, Julius Röntgen, Anton Rubinstein und eine Bach-Bearbeitung von Liszt. Es ist also anzunehmen, dass Johanna Heymann einen reinen Klavierabend gab (was sonst nur arrivierte KollegInnen wagten), und dies wurde ihr nach dem Dresdner Konzert verübelt: „Die Dame ist noch sehr jung und reichbegabt, nur beging sie den Fehler, den ganzen Abend allein mit ihren Vorträgen auszufüllen, und dafür ist sie weder geistig noch physisch reif“ (ebd., S. 995).

Den Pressemeldungen zufolge verzichtete Johanna Heymann anschließend für zweieinhalb Jahre auf Konzertreisen und beschränkte ihre Auftritte auf die Niederlande (Amsterdam Nov. und Dez. 1894, Dez. 1895, Groningen Okt. 1896). Im Okt. und Nov. 1896 gastierte sie zum ersten Mal in London und gab in der St. James’s Hall am 29. Okt., 10. und 20. Nov. sowie am 1. Dez. wiederum vier reine Klavierabende – mit jeweils unterschiedlichen Programmen. Publikum und Kritiker schienen hier gleichermaßen von diesem Wagnis überzeugt: „That her brilliant qualities are not altogether unknown was demonstrated by the well-filled aspect of the hall, and the fact that this young girl held the attention of the large audience throughout a programme of 14 items entirely without vocal relief, speaks for her power of attraction. Her touch is velvety and light, though forcible; every note rings clearly resonant without percussion. Her style is simple and unaffected, her readings marked by musicianly feeling (Musical News 1896 II, S. 393). „Athenæum“ und „Musical News“ waren sich zwar einig darin, dass die Musikerin in Beethovens Sonate D-Dur op. 10 „not at her best“ (Musical News 1896 II, S. 465) gewesen sei, die übrigen Kompositionen aber einwandfrei wiedergegeben habe. Die „Musical Times“ lobte die Programmwahl, die zwar „generally admired works by Beethoven, Bach, Schubert, Chopin, Schumann, and Grieg“ (MusT 1896, S. 810) enthalten habe, jedoch auch neue, „unfamiliar pieces“ (ebd.) präsentierte (Julius Röntgen, Carl Heymann, J. H. Lack), darunter Aus den Zwiegesprächen von Amanda Röntgen.

Die London-Reisen wiederholten sich im Frühjahr 1897 und Jan. bis März 1900. Im Nov. 1900 gastierte Johanna Heymann auch in Birmingham. Im Febr. 1899 konzertierte sie in Berlin. Anfang 1901 ließ sie sich in Paris hören, anschließend reiste sie wiederum zu Konzerten nach London. Von 1903 bis 1908 und während des Jahres 1914 verlegte sie ihren Wohnsitz nach London, konzertierte aber auch in dieser Zeit weiterhin in den Niederlanden. Von 1921 bis 1924 lebte sie in Berlin und kehrte anschließend nach Amsterdam zurück, wo sie am 1. Sept. 1924 mit ihrer Schwester Sara Heymann eine Musikschule eröffnete. Zunächst in der Plantage Middenlaan 31 untergebracht, wurde sie 1939 in die Sarphatistraat 80 verlegt.

Zumindest bis Ende der Zwanziger Jahre war Johanna Heymann regelmäßig solistisch tätig, 1927 und 1928 war sie auch mehrmals in Programmen von Radio Hilversum zu hören. Im folgenden Jahrzehnt engagierte sie sich musikalisch vor allem im Rahmen der Amsterdamer jüdischen Gemeinde.

Neben zahlreichen Klavierabenden und einigen Auftritten mit Orchester (Beethoven, Konzerte Nr. 1 C-Dur op. 15 und Nr. 4 G-Dur op. 58; Mendelssohn, Capriccio op. 22, Konzert Nr. 2 d-Moll op. 40; Chopin, Konzert Nr. 1 e-Moll op. 11) wurde ab 1897 auch die Kammermusik einer von Johanna Heymanns Schwerpunkten. Mit dem Böhmischen Streichquartett musizierte sie im Mai 1897 und Febr. 1903 in London Schumanns Klavierquintett Es-Dur op. 44; in Birmingham spielte sie dieselbe Komposition im Nov. 1900 mit dem Quartett des niederländischen Violinisten Max Mossel. Im Mai 1897 war sie die Partnerin des Violinisten Henry Such (u. a. Sonate G-Dur op. 30 Nr. 3 von Beethoven), und im Nov. 1908 trat sie mit Nella Gunning und Kato van der Hoeven als „Hollandsche Dames-Trio“ auf (u. a. Beethoven, Trio Es-Dur op. 1 Nr. 1).

 

 

LITERATUR

Algemeen Handelsblad [Amsterdam] 1886, 16., 17. Jan.; 1890, 30. Dez.; 1901, 23. März; 1903, 5. Aug.; 1908, 12.Nov.; 1914, 1. Apr.; 1923, 3. Aug.; 1924, 29. Aug.; 1934, 10. Sept.

Allgemeine Kunst-Chronik 1894, S. 154

Athenæum 1896 II, S. 765, 804; 1897 I, S. 659; 1900 I, S. 122, 249; 1901 I, S. 703; 1903 I, S. 218; 1914 I, S. 455

Bock 1892, S. 147, 156, 201, 683; 1893, S. 109, 520, 533; 1894, S. 255

The Cremona 1907, S. 83; 1908, S. 150f.

FritzschMW 1892, S. 212; 1893, S. 653, 666

Der Klavier-Lehrer 1899, S. 66

Limburger Koerier. Provincial Dagblad 1. Okt. 1925

Limburgsch Dagblad 28. Sept. 1925

Musical News 1896 II, S. 333, 393, 416, 452, 465, 476; 1897 I, S. 346, 461f.; 1900 II, S. 106, 211

Musical Opinion and Music Trade Review 1897, S. 235

Musical Standard 1893 II, S. 389, 429; 1896 II, S. 188, [228], 307, 339, 353; 1897 I, S. 235, 250, 286, 303; 1900 I, S. 74, 137; 1901 I, S. 200; 1903 I, S. 104; 1903 II, S. 63, 80, 392; 1904 II, S. 11; 1906 I, S. 59; 1909 I, S. 174

MusT 1896, S. 719, 810; 1897, S. 21, 387f.; 1900, S. 187, 822; 1901, S. 553; 1906, S. 833; 1914, S. 47, 331, 402, 542

Nieuw Israelietisch Weekblad 1899, 27. Okt.; 1900, 9. März; 1906, 14. Sept.; 1924, 7. März, 11. Juli; 1926, 29.Jan.; 1930, 24. Jan., 21. März; 1934, 7. Sept.; 1936, 4. Sept.; 1937, 3. Sept.

Het Nieuws van den Dag. Kleine Courant [Amsterdam] 1897, 3. Nov.; 1912, 17. Febr.

NZfM 1886, S. 459; 1887, S. 185; 1891, 360; 1893, S. 376, 492; 1896, S. 511; 1899, S. 145

Die Presse [Wien] 28. Nov. 1895

Radio Wien 5. Okt. 1928, S. XIX

Saturday Review of Politics, Literature, Science, and Art 1901, S. 718

Signale 1891, S. 1015; 1892, S. 132, 376; 1893, S. 22, 855, 889, 948, 995, 1080; 1896, S. 68; 1897, S. 485; 1899, S. 200, 281; 1900, S. 246, 357, 360

De Telegraaf [Amsterdam] 1899, 22. Febr.; 1910, 17. März; 1927, 25. Aug.; 1939, 27. Mai

Tilburgsche Courant 25. Aug. 1927

De Tribune 18. Jan. 1928

Violin Times 1896, S. 17; 1897, S. 99; 1901, S. 145f.; 1903, S. 35; 1904, S. 102; 1905, S. 83

Wiener Montags-Journal 18. Nov. 1895, S. 6

 

Bildnachweis

Geheugen van Nederland, http://www.geheugenvannederland.nl/?/nl/items/CBG01:25093/&p=1&i=4&t=7&st=heymann
&sc=%28heymann%29/&wst=heymann, Zugriff am 13. Febr. 2014.

 

Freia Hoffmann

 

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