Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

Merli, Enrichetta, HenrietteRighetta

* 1839 in Camaiore (Provinz Lucca, Italien), Sterbedaten unbekannt, Pianistin und Komponistin. Sie erblindete im Alter von vier Monaten, anderen Angaben zufolge mit vier Jahren. Ihr älterer Bruder Federico Merli erhielt Klavierunterricht, dem die Schwester beiwohnte, „and before she was two years old, could perform a little, having for her instructor, her brother, himself only twelve years of age. In an incredible brief space of time, she obtained not only great skill as a performer, but great facility as a composer (MusW 1846, S. 425). Ihr Debut gab sie 1845 – im Alter von sechs Jahren – in der Akademie in Lucca. Es folgten Auftritte 1845 in Rom und 1846 in Neapel, Florenz, Palermo, Genua, Turin, Mailand und Varese, wo sie ihren Vortrag verschiedener Werke durch Improvisationen ergänzte. In Palermo wurde sie zum Ehrenmitglied der Accademia Filarmonica ernannt. Die Nachricht von der blinden Kindervirtuosin drang bis nach Deutschland vor: „In Rom ist ein Wunderkind zum Vorschein gekommen: Righetta Merli aus Lucca, 6 Jahr alt; blind geboren, componirt und spielt sie mit grosser Virtuosität die schwersten und glänzendsten Werke neuerer Meister auf dem Pianoforte“ (AmZ 1846, Sp. 96).

Am 5. Febr. 1847 ließ sie sich im Teatro Comunale in Bologna hören und danach in den Theatern von Padua und Venedig. Es folgte eine Tour durch Deutschland und Frankreich. Überall erregte sie großes Aufsehen und bewegte – auch aufgrund ihrer Blindheit – die Gemüter. Auch kritische Stimmen wurden laut: „Ist es nicht genug, wenn ein Kind von 6 Jahren, ein blindes Kind Clavierpiecen mit Geschmack, richtigem Takte, reiner Intonation spielt, wie die Phantasie von M. Mustici und M. Fonzo? – Warum es mit einer Bravour-Piece wie die Caprice-Etude von Prudent, die einem erwachsenen und fertigen Clavierspieler bedeutende Schwierigkeiten darbietet, und offenbar die physischen und geistigen Kräfte des Kindes übersteigt, unnöthig und erfolglos quälen? […] Obgleich ich die Kleine bewundern mußte ob ihrer technischen Fertigkeit und ihres weit über ihre Jahre gehenden musikalischen Verständnisses, so hat mich doch der Vortrag eben dieser letzten Piece, das Ringen des armen Kindes mit Schwierigkeiten, deren Besiegung bis jetzt außer dem Bereiche der Möglichkeit, unangenehm berührt, und im Namen der Menschlichkeit muß ich den Lehrern der Kleinen wiederholt zurufen: ‚Macht die Musik dem Kinde nicht zur Folter!‘(AWM 1847, S. 235). Auch andernorts wird angemerkt, die Caprice-Etüde von Prudent habe sie überfordert (Wiener Zeitung 20. Mai 1847). Im selben Jahr ließ sich Enrichetta Merli in Ferrara bei der Philharmonischen Gesellschaft, in Mailand und Paris sowie in Wien, u. a. im Schloss Schönbrunn vor der kaiserlichen Familie, hören. In Wien wohnte Enrichetta Merli mit ihren Eltern bei einem Mäzen namens Galvagna, der ihr Klavierunterricht bei Carl Maria von Bocklet vermittelte (Gazzetta musicale di Milano 1847, S. 247).

1848 trat die Musikerin in Berlin, erneut in Paris sowie in Brüssel in der Philharmonischen Gesellschaft auf. In Paris trug sie neben ihren eigenen Kompositionen die Aufforderung zum Tanz von Weber, ein Nocturne von Theodor Döhler sowie l’Hirondelle von Emile Prudent vor: „Malgré la petitesse de ses mains, la jeune artiste se joue des difficultés, et, ce qui vaut mieux encore, elle se pénètre profondément du charactère et de l’esprit des morceaux qu’elle exécute“ („Trotz ihrer kleinen Hände wird die junge Künstlerin spielend mit den Schwierigkeiten fertig, und, was noch wichtiger ist, sie durchdringt zutiefst den Charakter und den Geist der Stücke, welche sie vorträgtRGM 1848, S. 61). Eine anschließende Spanienreise, die in Begleitung des Bruders geplant war, hat in der Fachpresse anscheinend keinen Niederschlag gefunden.

Nach ihrer Reise kehrte sie an ihren Geburtsort zurück und widmete sich verstärkt dem Studium ihres Instrumentes, „comprendendo che venendegli a mancare il prestigio della fanciullezza, non avrebbe potuto calcolare in avvenire che sulla valentia“ („da sie sah, dass ihr bald der Reiz des Kindlichen fehlen würde und dass sie daher in Zukunft nur noch auf ihre Fertigkeit würde bauen könnenAccademia Filarmonica Bologna). 1854 und 1855 trat sie in Genua u. a. mit eigenen Werken auf. Die Kritiker würdigten sowohl ihre musikalische Weiterentwicklung als auch die Qualität ihrer Kompositionen. 1855 reiste sie nach Nizza. 1858, nachdem sie sich in den Bädern von Montecattini und Viareggio hatte hören lassen, ging sie noch einmal nach Frankreich, wo sie eine so große Begeisterung hervorrief, dass man ihr in Lyon einen Flügel der Firma Pleyel schenkte.

Neben ihren Auftritten also Solistin betätigte sich Enrichetta Merli auch als Klavierbegleiterin und in Kammermusik-Formationen. Sie komponierte um die 20 Stücke für Klavier, und ihr Repertoire umfasste neben eigenen Werken Kompositionen von Emile Prudent, Theodor Döhler, Carl Maria von Weber, Sigismund Thalberg u. a.

 

WERKE FÜR KLAVIER

Scherzetto per pianoforte, Neapel 1846; Petite fantaisie pour piano, Neapel 1846; Cinq valses et trio; Romance varié op. 3; Notturno; Rimembranze, Notturno; Ultima lagrima, Elegia; Caprice-Etüde; Tarantella; Fantasien über Motive aus Lucia di Lammermoor (Donizetti), I Lombardi (Verdi) und La Sonnambula (Bellini)

 

LITERATUR

Accademia Filarmonica, Bologna: Catalogo della collezione d’autografi 1881

AmZ 1846, Sp. 96; 1848, Sp. 256

AWM 1847, S. 235, 284; 1848, S. 136

Bock 1847, Nr. 23; 1848, Nr. 17

Cäcilia 1847/8, S. 189f.

Il Caffè Pedrocci 1846, S. 413

Gazzetta musicale di Firenze 1854, S. 188; 1855, S. 127

Gazzetta musicale di Milano 1846, S. 119, 263, 317, 341, 388, 404f.; 1847, S. 29, 54, 102, 119, 143, 167, 175, 191, 231, 247, 343; 1848, S. 70; 1854, S. 118, 148; 1855, S. 14, 110

Der Humorist 1847, S. 396, 456, 462f.

The Newcastle Current 18. Febr. 1848

NZfM 1847 I, S. 194

MusW 1846, S. 425f.

Der Österreichische Zuschauer 1847, S. 632

Il Pirata 1846, S. 144

RGM 1848, S. 97f., 123

Sonntagsblätter/Wiener Bote 1847, S. 159

Teatri, Arti e Letteratura 1847–48, S. 11

Wiener allgemeine Musik-Zeitung 1847, S. 235, 284, 367; 1848,  S. 136

Wiener Zeitung 20. Mai 1847

Alexander Mell (Hrsg.), Encyclopädisches Handbuch des Blindenwesens, Wien u. Leipzig 1900.

Eduard Hanslick, Geschichte des Concertwesens in Wien, 2 Bde., Bd. 1, Wien 1869, Repr. Hildesheim [u. a.] 1979.

 

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