Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

Knocker, Editha (Grace)

* 2. März 1869 (nach anderen Angaben 21. Apr. 1869) in Exmouth/Devon, † 19. Sept. 1950 in Glenuig/Inverness, Violinistin, Bratschistin, Geigenlehrerin, Dirigentin, Autorin und Übersetzerin. Sie war die Tochter von Hugh Horatio Knocker (1829–1869), der als Kapitän der Royal Navy am Ende seines Lebens an der westafrikanischen Küste stationiert war, und Rosa geb. Hensley (1834–1923). Editha Knocker war das jüngste von fünf Kindern des Ehepaares. Daten über ihre ersten musikalischen Ausbildungsschritte liegen zurzeit nicht vor. Sie wurde 1886 Schülerin an der Berliner Hochschule, wo sie bis 1890 verblieb. Dort war zunächst Johann Kruse (1859–1927), im letzten Unterrichtsjahr Joseph Joachim (1831–1907) ihr Lehrer.

Ihre künstlerische Wirksamkeit entfaltete Editha Knocker danach in Großbritannien. In der britischen Musikpresse ist erstmals 1891 von ihr zu lesen, als sie bei einer Adventsmusik im York Minster, der größten mittelalterlichen Kirche Englands, mitwirkte. Sehr vereinzelt erscheint ihr Name in den folgenden Jahren in den überregionalen Gazetten. York blieb ein für sie zentraler Ort der Wirksamkeit. Sie war dort in der York Musical Society tätig und unterrichte an der Mount School, einer noch heute bestehenden privaten Quaker-Schule für Mädchen. In York war sie 1899 auch Mitgründerin des „York Symphony Orchestra“, eines gemischtgeschlechtlichen Amateur-Orchesters, das noch heute existiert. Editha Knocker wurde zu einer zentralen Figur beim Aufbau dieses Orchesters. Als „leader of the band“ (MusT 1903, S. 310) nahm sie dort die Aufgaben einer Konzertmeisterin wahr. Mehrfach trat sie mit diesem Orchester solistisch auf.

Nach dem Rückzug des vorherigen Dirigenten Tertius Noble wurde Editha Knocker 1913 Dirigentin des York Symphony Orchestra, wobei sie sich diese Aufgabe mit Edward Cuthbert Bairstow teilte. Das Komitee des Orchesters begründete diesen Schritt so: „Ever since its inception, Miss Knocker has been the able leader of the band, and her knowledge of the technics of stringed instruments – in which section are practically all the amateur members – will be of untold value in the preparation of works to be performed“ (Yorkshire Chronicle 7. Aug. 1913, zit. nach http://www.yso.org.uk). Während Editha Knockers violinistische Fähigkeiten im Rahmen der Berichterstattung über das Orchester oft hervorgehoben und auch ihre Bedeutung für das Orchester anerkannt wurden, gab es nun Zweifel an der Befähigung als Dirigentin. Die „Yorkshire Post“: „It is not often that one experiences the novelty of seeing a lady conductor or a conductor conducting with the left hand, but last night both curiosities were exhibited in the case of one individual. As a form of recognition and appreciation of the invaluable services rendered to the York Society by Miss E. G. Knocker, an enthusiastic musician of the city it appears the Committee have conferred upon her the position of co-conductor. Admitting that from this point of view this was doubtless the handsome thing to do, it is hoped the step will not impair the efficiency of the orchestra upon the occasion of their public concerts. For the effective guidance of a mass of players such as that which comprises the York orchestra, composed as it is mostly of amateur performers, a firm, decisive, bold, commanding, and absolutely unmistakable beat is pre-eminently a necessity. Whilst admitting Miss Knocker’s musicianly readings, it was certainly in a large measure due to the comparative absence of these features of the art of conducting that the performance of even such a familiar work as the ‚Peer Gynt‘ Suite was so ragged and unsatisfactory as it was“ (Yorkshire Post 27. Nov. 1913, zit. nach http://www.yso.org.uk). Dass Editha Knocker die Durchsetzungsfähigkeit für die Dirigententätigkeit fehle, wurde aber in der Folge angezweifelt. So schreibt ein Leser (wohl der Mit-Dirigent Bairstow) an das Blatt: „I have always admired the ‚Yorkshire Post and its dignified reports and criticisms but the reference to Miss Knocker as a curiosity because she was a lady conductor and conducted with her left hand (in order to save her right hand for violin work) was most ungallant, and out-of-date, to say the least of it. […] It is a remarkable thing that the performance of the ‚Peer Gynt Suite under Miss Knockers conductorship was considered exceptionally fine, the only ‚ragged bit of any prominence being some uncertainty in the beginning of the Fourth Movement (Brief vom 28. Nov. 1913, zit. nach http://www.yso.org.uk). Editha Knocker selbst schreibt in privater Korrespondenz über „the tone of the so called criticism of my conducting – which is really nothing less than an attack – and no criticism at all“ (Brief vom 28. Nov. 1913, zit. nach ebd.).

Im Jahr darauf kündigte Editha Knocker ihren Abschied aus York an. Bereits aus Loschwitz bei Dresden schreibt sie: It is with real sadness that I write to resign from my offices of Conductor + Leader of the Y.S.O. I have had an urgent call to take up important work in Berlin, + I have decided to go there at once (Brief vom 13. Juli 1914, zit. nach http://www.yso.org.uk). Leopold von Auer, selbst einst Joachim-Schüler und einer der wichtigsten Violinlehrer des 20. Jahrhunderts (Schüler u. a. Mischa Elman, Jascha Heifetz, Nathan Milstein), hatte sie als Assistentin berufen. Ein in Dresden entstandenes Gruppenphoto weist Editha Knockers Anwesenheit dort nach, es zeigt sie im Kreise von Auer-SchülerInnen, darunter Berühmtheiten wie Jascha Heifetz und Toscha Seidel. Wohl aufgrund der politischen Umstände am Vorabend des Ersten Weltkrieges blieb Editha Knocker nur im Juni und Juli 1914 in Deutschland und kehrte dann wieder nach Großbritannien zurück.

Spätestens nach dem Krieg verlegte Editha Knocker ihren Wirkungsschwerpunkt nach London. 1919 dirigierte sie in der Wigmore Hall das New Queen’s Hall Orchestra bei einem Konzert der Violinistin Edith Abraham. 1923 trat sie am selben Ort mit dem irischen Bariton Harry Plunket Greene auf. Sonst war von eigenen Aktivitäten als künstlerisch tätige Violinistin nichts mehr zu lesen. Gesundheitliche Probleme führten dazu, dass sie den Karriereweg als Violinsolistin nicht beschreiten konnte. „Persistent neuritis broke off her concert-playing“ (Hull, S. 368). Anfang der 1920er Jahre beteiligte sie sich mehrmals an Wettbewerben als Jurorin, etwa 1923 in Aberdeen und im irischen Derry. Von größerer Bedeutung war indes ihre Tätigkeit als Violinlehrerin. Schon zu ihrer Zeit in York hatte sie unterrichtet. So war Leila Willoughby, die mit dem Yorker Orchester mehrmals solistisch spielte, ihre Elevin. Ab 1923 finden sich in der „Times“ Annoncen, mit denen sie auf sich als Lehrerin aufmerksam machte. 1926 ist in den britischen Gazetten erstmals eine Anzeige der „Editha Knocker School of Violin Playing“ (MusT 1926, S. 770) zu lesen. Die Institution verfügte über Räumlichkeiten in London (zunächst in der Lambolle Road, später in der Finchley Road); es waren dort mehrere Lehrer tätig, offenbar ging es um eine professionelle Ausbildung. „The School aims specially at providing violin and viola training for students and teachers who lack time for a full academical course(MusT 1927, S. 991). Die SchülerInnen der Institution traten gelegentlich in Ensembles gemeinsam auf. So dürfte sich der Konzerthinweis auf „The Editha Knocker String Orchestra. Conductor. Editha Knocker“ (Times 2. Okt. 1930), zu hören im Dez. 1930 im Victoria and Albert Museum, auf ein Schulensemble beziehen. Ausgebildet wurde dort u. a. die südafrikanische Geigerin und Bratschistin Phyllis Ebsworth. Die Schule bestand mindestens bis 1933. Ob der bekannteste Schüler Editha Knockers ebenfalls an dieser Schule unterrichtet wurde, ist nicht bekannt: Sidney Griller (1911–1993) war Gründer und Primarius des rund 30 Jahre lang international und auf höchstem Niveau tätigen Griller String Quartet. Ein sehr bekannter Schüler Knockers war auch der britische Dirigent Basil Cameron (1884–1975).

Nach dem Tod Editha Knockers gründete sich der Editha Knocker Memorial Fund, der sich für die Förderung von Rural Music Schools zur Verbreitung des Instrumentalunterrichts auch in ländlichen Gegenden engagierte, was offenbar den Interessen Editha Knockers in ihren letzten Lebensjahren entsprach. Der Vorstand der Stiftung war äußerst prominent besetzt: Präsident war Ralph Vaughan Williams, weitere Vorstandsämter hatten Adrian Boult als Schatzmeister und Basil Cameron inne. Bekannte MusikerInnen gaben Benefizkonzerte zugunsten des Editha Knocker Memorial Funds, etwa das Amadeus Quartett (1953) oder die Sopranistin Janet Baker (1967). Das weitere Schicksal der Institution ist derzeit unklar.

In Erinnerung bleibt Editha Knocker vor allem als Autorin und Übersetzerin. Neben einigen Lehrwerken hat sie insbesondere Leopold Mozarts Violinschule ins Englische übersetzt, wobei die 2. Auflage (1951) inzwischen in Reprints wiederveröffentlicht wurde.

 

SCHRIFTEN

Editha Knocker, An Analysis of the Art of Practising, London 1921.

Editha Knocker, The Making of a Violinist. The Science of Violin Technique as Applied to Art. A Summary of Principles for the Use of Teachers, London c. 1921.

Editha Knocker, The Violin, Glasgow c. 1922.

Leopold Mozart, A Treatise on the Fundamental Principles of Violin Playing [Versuch einer gründlichen Violinschule], übersetzt von Editha Knocker, London 1951 [Repr. Oxford, New York 1985, 1990].

Editha Knocker, Violinist’s Vade Mecum. An Invitation to all Students, Teachers and Performers, London 1952.

 

LITERATUR

Musical Standard 1891 II, S. 477; 1909 I, S. 123

MusT 1897, S. 838; 1900, S. 266; 1903, S. 309f.; 1914, S. 56, 195; 1922, S. 347; 1923, S. 281, 427, 432, 575; 1926, S. 770, 838; 1927, S. 936, 991; 1930, S. 1083f.

Saturday Review of Politics, Literature, Science, and Art 1919, S. 511

The School Music Review 1923, S. 283

The Times [London] 1919, 24., 29. Mai; 1923, 10., 17., 19., 23. Febr., 15. Sept.; 1924, 10., 12. Jan.; 1926, 15., 29. Dez.; 1927, 5., 7. Jan., 14. März, 24. Sept.; 1928, 18. Febr., 3., 10. Dez.; 1929, 11., 18. Jan., 3. Mai, 27. Sept.; 1930, 3., 10. Jan., 25. Apr., 2. Mai, 12. Sept., 2. Okt.; 1931, 9. Jan., 30. Okt., 6. Nov.; 1932, 23. Jan., 14. März, 2. Juli, 29., 30. Dez.; 1933, 6. Jan., 21., 28. Apr., 8. Sept., 1., 8. Dez.; 1934, 27. Apr., 7., 14. Sept.; 1935, 4., 11. Jan.; 1936, 25. Jan., 1. Febr.; 1941, 18. März; 1950, 22. Sept., 2. Okt.; 1951, 13. Jan., 24. Mai; 1952, 26. Jan.; 1953, 9., 16. Mai, 20. Juli; 1954, 22. Nov., 11. Dez.; 1960, 11. Juni; 1967, 14. Jan.; 1975, 28. Juni

Arthur Eaglefield Hull (Hrsg.), A Dictionary of Modern Music and Musicians, London u. Toronto 1924.

Hartmut Schütz, Leopold von Auer im Kreise seiner Schüler. Eine Recherche, unveröffentlichtes Manuskript, Historisches Archiv der Sächsischen Staatsoper Dresden, Dresden 2013.

Biographie des Vaters, Internetseite „The Medical Gentlemen of Bow“, http://medicalgentlemen.co.uk/patients-and-diseases/knocker, Zugriff am 11. Juli 2014.

Zeitungen und Briefe im Volltext auf der Internetseite des York Symphony Orchestra, http://www.yso.org.uk/biographies/knocker.html, Zugriff am 11. Juli 2014.

 

Bildnachweis

http://www.yso.org.uk/biographies/knocker.html, Zugriff am 11. Juli 2014; Dank für die Genehmigung an Anthony Fox, York Symphony Orchestra.

 

Volker Timmermann

 

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