Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

Rytterager, Ryterager, Rytherager, Johanne, Johanna (Olivia), verh. Thuë, Thuë-Rytterager

* 17. Sept. 1849 in Oslo, † 1924, Ort unbekannt, Pianistin und Klavierlehrerin. Johanne Rytterager war die Tochter von Louise Emilie geb. Hoffeldt (1825–1904) und Ivar Olsen Rytterager (1818–1898), einem königlichen Finanzbeamten. Sie hatte zwei Geschwister: Birger Ivar (1852–?) und Mimmi Emilie Sofie (1854–?), später verh. Hansteen. Ihre pianistische Ausbildung erhielt sie in Oslo bei Halfdan Kjerulf (1815–1868), der auch Lehrer von Erika Lie und Agathe Backer-Grøndahl war, sowie von einem Pianisten namens Lindholm (möglicherweise Fredrik Lindholm, 1837–1901). Ebenfalls in Oslo besuchte sie den Gesangsunterricht bei einem Musiker namens Meyer.

In Begleitung einer Tante reiste Johanne Rytterager 1868 nach Berlin, wo sie ihre Ausbildung am Kullak’schen Konservatorium fortsetzte. Zum 25. Okt. 1871 wurde sie als Studentin an das Leipziger Konservatorium aufgenommen. Dort erhielt sie Klavierunterricht bei Theodor Coccius (1824–1897), Ernst Ferdinand Wenzel (1808–1880) und Carl Reinecke (1824–1910). Für die Jahre ihrer Studienzeit ist die Mitwirkung in den (Prüfungs-)Konzerten der Einrichtung belegt. In der Hauptprüfung am 17. Mai 1873 trug sie den zweiten und dritten Satz aus Chopins Klavierkonzert Nr. 1 e-Moll op. 11 vor. Der erste Satz wurde von ihrer Kommilitonin Helene Hartmann gespielt. Ausführlich kommentiert die Zeitschrift „Signale für die musikalische Welt“: „Fräulein Rytterager ließ das Technische anlangend ebenfalls keinen Vorwurf aufkommen, ja erwies sich sogar als ein Fräulein Hartmann an Bedeutsamkeit überragendes Claviertalent, sowie auch als mit wärmerem Gefühl und feinerem Geist begabt; aber sie peccirte in ihrem Vortrag insofern, als sie zu viel that, wo Fräul. Hartmann zu wenig that, d. h. als sie zu starkes Phrasirungs-Gewürz spendete und gar häufig in’s Gebiet des Affectirten und Manierirten hinübergriff“ (Signale 1873, S. 418). Im Prüfungskonzert am 21. Mai 1874 vermochte die Studentin dem Rezensenten der „Neuen Zeitschrift für Musik“ zufolge Robert Schumanns Klavierkonzert a-Moll op. 54 „noch nicht völlig zu durchdringen oder aus großer Befangenheit nicht frei genug wiederzugeben, verdient aber trotzdem als eine der vorgeschrittensten und hoffnungsvollsten Pianistinnen hervorgehoben zu werden“ (NZfM 1874, S. 259f.). Bis zum Sommer 1875 war Johanne Rytterager am Konservatorium eingeschrieben. Von ihren Lehrern erhielt sie ausschließlich lobende Beurteilungen. Theodor Coccius zufolge „entspricht“ die Musikerin „ihren vorzüglichen Anlagen durch rühmlichen Fleiß und macht ausgezeichnete Fortschritte“ (Zeugnis vom 16. Apr. 1872). Auch Ernst Ferdinand Wenzel erachtet „Anlagen, Fleiß und Fortschritte [als] gleich vorzüglich“ (ebd.). Carl Reinecke attestiert der Studentin „vortreffliche Anlagen namentlich für Technik, da sie auch fleißig und strebsam ist, so steht sehr Gutes von ihr zu erwarten“ (Zeugnis vom 21. Dez. 1872).

Johanne Rytterager trat in Leipzig auch außerhalb der Einrichtung öffentlich in Erscheinung. Anfang des Jahres 1873 war sie in einer Soiree eines Kommilitonen, des finnischen Komponisten und Pianisten Martin Wegelius, mit dessen Komposition Minnen från en dag i Sachsiska Schweiz zu hören. In demselben Jahr wirkte sie in einem Konzert des Zweigvereins des Allgemeinen Deutschen Musikvereins mit (Griegs Sonate Nr. 2 G-Dur op. 13 für Klavier und Violine). 1875 trat die Pianistin in einer der Novitätenmatineen der Herren Winterberger und Stade auf (Humoreske von Grieg). Am 10. März 1876 trug sie in Kopenhagen in einem Abonnementskonzert des dortigen Musikvereins Beethovens Klavierkonzert Nr. 4 G-Dur op. 58 vor. Ebenfalls 1876 trat Johanne Rytterager in Konzerten des Osloer Musikvereins unter der Leitung von Johann Svendsen auf. Sogar in der englischen Fachpresse fand ihr Wirken Beachtung: „Herr Svendsen is lucky in the discovery of rising native (Norwegian) talent. At one of his concerts of last season he brought out Miss Johanne Rytterager (also of Christiania), whose classical playing was so much admired that at the concert she won a perfect ovation, and was afterwards serenaded by the students. Miss Rytterager was engaged by Gade to play at the subscription concerts at Copenhagen, and had also the honour of performing at a private concert before the king and queen, who were so pleased with her that the queen took off a bracelet she was wearing and presented it to the young pianist. Both Miss Rytterager and Miss Jacobsen have been educated at the Leipzig Conservatoire, and are now starting for a concert-tour through Germany. It seems well, therefore, to direct the attention of concert-givers to these two fascinating young artists, who are not only endowed with extraordinary musical talents, but are also favoured with all the charms it is in the power of the Graces to bestow“ (Monthly Musical Record 1877, S. 11f.).

1878 trat Johanne Rytterager wohl erstmals gemeinsam mit Agathe Backer-Grøndahl auf. Mit Pablo de Sarasate gaben beide Frauen im Herbst des Jahres vier Konzerte in Oslo, in denen die Variationen aus Beethovens Kreutzer-Sonate, Konzerte von Beethoven und Mendelssohn, eine Suite von Ries sowie die Zigeunerweisen op. 20, die Spanischen Tänze opp. 22, 23 und 26 sowie die Faustfantasie op. 13 von Sarasate zum Vortrag gelangten. Mit Agathe Backer-Grøndahl konzertierte Johanne Rytterager in den folgenden Jahren wiederholt gemeinsam. Unter anderem ist ihre Mitwirkung in einem Konzert der Kollegin am 3. März 1881 im Brødrene Hals’ Sal in Oslo belegt. Die Pianistinnen spielten darin Robert Schumanns Andante und Variationen für zwei Pianoforte B-Dur op. 46: „De to Damer spilte også rigtig con amore og tilvandt sig Publikums varmeste Anerjkendelse for deres udmærkede Spil“ („Die zwei Damen spielten auch richtig con amore und sicherten sich die wärmste Anerkennung für ihr ausgezeichnetes Spiel“, Ny Illustreret Tidende 13. März 1881).

 

Am 3. Sept. 1881 heiratete Johanne Rytterager den Arzt Henning Junghans Thuë (1852–1889). Vier Kinder wurden in den nächsten Jahren geboren: Jens (1885–?), Emilie (1886–1887), Ivar (1888–1962) und Henry (1890–1926).

1882 befand sich Johanne Thuë ein weiteres Mal in Deutschland. Im März wirkte sie in einer Gesangssoiree von Auguste Götze in Dresden mit. In Leipzig beteiligte sie sich am 13. Abon­nementskonzert im Gewandhaus und trug hierin Chopins Klavierkonzert Nr. 2 f-Moll op. 21 sowie Kompositionen von Mendelssohn und Grieg vor. Ein Kritiker sieht in „ihren Leistungen noch immer etwas Conservatoriumhaftes (um nicht zu sagen: Schülerhaftes)“, attestiert ihr einen Mangel an „nöthige[r] Autorität in technischer wie geistiger Beziehung“, wagt aber eine positive Prognose: „Wenn sie das Alles in richtiger Weise würdigt – d. h. als Aufmunterung zum Weiterstreben – so soll uns das freuen. Ihre Anlagen sind entschieden gute und entwicklungsfähige“ (Signale 1882, S. 114). Die „Neue Zeitschrift für Musik“ lässt ähnliches verlauten. Mit dem Chopinschen Konzert habe sich die Pianistin „eine Aufgabe gestellt, der sie bezüglich der geistigen Erfassung und Wiedergabe nicht durchgängig genügte. Vermöge ihrer ganz respectablen Technik vermochte sie wohl die zarten, lieblichen melodischen Ideen schön zu reproduciren, nicht aber das heroische Pathos. Die recitativartige Stelle im zweiten Satze, das grollende Zwiegespräch zwischen Orchester und Soloinstrument verfehlte sie ganz und gar. Später trug sie eine Etüde von Mendelssohn und Grieg’s norwegischen Brautzug [op. 19 Nr. 2] recht gut vor und läßt sich auch von ihr bei mehr geistiger Vertiefung und fortgesetzten Studien noch höchst Erfreuliches erwarten“ (NZfM 1882, S. 61).

Spätere Auftritte sind in der zeitgenössischen Presse nicht dokumentiert. Möglicherweise hat sich Johanne Rytterager-Thuë nur wenige Monate nach ihrer Heirat aus dem öffentlichen Konzertleben zurückgezogen.

 

LITERATUR

Heiratsregister Domkirche Oslo / Vår Frelsers menighet parish 1865–1884, Norwegisches Nationalarchiv, Signatur 0301M12

Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ Leipzig, Bibliothek/Archiv, Eintrag in das Inskriptionsregister A I.1, 1831; Inskription A I.2, 1831; Zeugnisse A I.3, 1831

Åbo Underrättelser 6. Febr. 1873

Aftenbladet [Oslo] 5. März 1881

Aftenposten [Oslo] 4. März 1881

AmZ 1882, S. 61

FritzschMW 1873, S. 123, 134; 1874, S. 283; 1875, S. 135, 160; 1878, S. 521; 1882, S. 54

Hufvudstadsbladet [Helsinki] 1873, 2., 4. Febr.

Leipziger Zeitung 1882, S. 124

Monthly Musical Record 1877, S. 11f.

Morgonbladet [Helsinki] 1873, 3. Febr.; 1876, 21. Juni

Musikalisches Centralblatt 1882, S. 120

NZfM 1873, S. 88f., 289, 300; 1874, S. 222, 259f.; 1875, S. 130, 215; 1876, S. 373; 1878, S. 457; 1882, S. 43, 61

Norske Intelligenssedler [Oslo] 5. März 1881

Ny Illustreret Tidende [Oslo] 13. März 1881

Signale 1873, S. 417f.; 1875, S. 418; 1876, S. 373; 1878, S. 856; 1878, S. 414, 420; 1882, S. 114

Universitets- og skole-annaler. Ny række. Udgivet efter foranstaltning af kirke- og undervisnings-departementet 1904, S. 242

Johann Gottfried Conradi, Kortfattet historisk Oversigt over Musikens Udvikling og nuværende Standpunkt i Norge. Tilligemed nogle biografiske Notiser om norske eller i Norge bosatte Komponister og Eksekutører, Oslo 1878.

Vilhelm Carl Ravn, Festskrift i Anledning af Musikforeningens Halvhundredaarsdag, 2 Bde., Bd. 1: Koncerter og musikaliske Selskaber i aeldre Tid, Kopenhagen 1886.

Christian Johnson, Norsk Haandlexikon for almennyttige Kundskaber, 3 Bde., Bd. 2, Oslo 1888.

Frantz Casper Kiær, Norges Læger i det nittende aarhundrede (1800–1886), 2 Bde., Bd. 1, Oslo 1887–1890.

Tobias Norlind, Allmänt Musiklexikon, 2 Bde., Bd. 2, Stockholm 1916.

[Edvard Grieg,] Edvard Grieg. Briefwechsel mit dem Musikverlag C. F. Peters. 1863–1907, hrsg. von Finn Benestad u. Hella Brock, Frankfurt a. M. [u. a.] 1997.

http://blixblog.blogspot.de/2004/07/meir-om-johanne.html, Zugriff am 12. März 2014.

http://folk.uio.no/oyvindyb/musikk/, Zugriff am 12. März 2014.

http://home.online.no/~olillebo/Gunleik.htm, Zugriff am 12. März 2014.

Konservatorium Leipzig, SchülerInnen, Ersteinschreibungen und AbsolventInnen, Sophie Drinker Institut Bremen, https://www.sophie-drinker-institut.de/kons-materialien, Zugriff am 24. Mai 2022.

 

Bildnachweis

Johanne Rytterager, Photographie von Christian Gihbsson, Oslo, um 1888–1890, Oslomuseum, Sign. OB.F19055e, http://oslobilder.no/OMU/OB.F19055e, Zugriff am 24. Mai 2022.

 

Annkatrin Babbe

 

 

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