Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

Götz-Lehmann, Lehmann, Auguste

* um 1865/66, weitere Lebensdaten unbekannt, schweizerische Pianistin. Unter dem Namen Auguste Lehmann trat das Mädchen der zeitgenössischen Presse zufolge bereits mit drei Jahren öffentlich auf. Am 29. Mai 1869 erschien sie im Konzertsaal des Züricher Kasinos an der Hand des Vaters“ (Über Land und Meer 1869, S. 755), eines Züricher Musikers und Musiklehrers, und war offenbar imstande, dem Publikum ein erstaunliches Programm zu bieten: Auguste begann ihr Konzert mit einer Sonatine von ca. 200 Takten von Diabelli, und spielte sie mit schönem Vortrage nicht nur fehlerfrei, sondern wußte die Töne künstlerisch zu binden und die Tempis beim Allegro und Andante fein zu unterscheiden, und das im Spiel sich wiederspiegelnde [sic] Gefühl zeugte am sichersten für die Ursprünglichkeit des wahren Genies. An diese Sonatine reihten sich achtzehn kleinere und größere Stücke, Volkslieder, kleine Etüden, Tänze und Genremelodieen − darunter sogar zwei Stückchen eigener Erfindung, alle sicher aus dem Gedächtniß vorgetragen. Mehrere Stücke spielte das liebliche Kind sogar in vier Tonarten“ (ebd.).

 

Auguste Lehmann 1869. Zeichnung von B. Kettlitz

nach einer Photographie von Keller in Zürich.

 

Im Jahr 1870 folgten Auftritte in Mainz (vor dem 12. März), Frankfurt a. M. (29. März), Dresden (1. Mai) und im Leipziger Gewandhaus (22. Mai) mit Leistungen, die „in der That an’s Wunderbare streiften“ (Dörffel, S. 224). So gab Auguste Lehmann auch Anlass zu psychologischen Erörterungen; noch 1883 wird sie von Carl Stumpf im 1. Band seiner „Tonpsychologie“ als Beispiel aufgeführt (S. 295).

Weitere biographische Informationen über Auguste Götz-Lehmann finden sich in Anna Morschs „Deutschlands Tonkünstlerinnen“ (1893). Bei einer der ‚Wunderkind'-Präsentationen habe die württembergische Königin Olga (ehemals russische Großfürstin Olga Nikolajewna Romanowa) das Kind gehört und dafür gesorgt, „dass die Kleine der ungesunden Frühreife entführt wurde und gründlichen Schulunterricht genoß“ (Morsch, S. 180). Anschließend vermittelte ihr die musikinteressierte Königin in Stuttgart ein Studium bei Siegmund Lebert (1822−1884) und Dionys Pruckner (1834−1896). Während dieser Zeit wurde Auguste von einer deutschen Familie Götz adoptiert und nannte sich nun Götz-Lehmann. Sie setzte ihr Studium in St. Gallen und Brüssel (bei einer Mad. Blauwaert) fort. Anschließend übersiedelte sie mit ihrer Adoptivmutter nach Berlin und wurde 1889 am Stern’schen Konservatorium Schülerin von Heinrich Ehrlich (1822−1899). In einer öffentlichen Prüfung am 19. März 1891 wurde sie vom Berliner Philharmonischen Orchester unter Robert Radecke begleitet.

Ihre Konzertlaufbahn eröffnete Auguste Götz-Lehmann am 22. März 1890 in der Berliner Singakademie, wobei insbesondere ihre Interpretation der Sonate g-Moll op. 22 und des Faschingsschwanks aus Wien op. 26 von Schumann gelobt wurde: „Ihre Vorträge zeugten von gründlicher technischer und musikalischer Ausbildung, dazu von regem geistigen Leben“ (Der Klavier-Lehrer 1890, S. 85). Ab 1890 von der Konzertdirektion Hermann Wolff vertreten, blieb sie vor allem im Berliner Musikleben präsent, u. a. am 4. Nov. 1892 mit dem Konzert g-Moll op. 22 von Camille Saint-Saëns in einer Aufführung mit dem Philharmonischen Orchester unter Rudolph Herfurth. Auswärtige Engagements führten sie 1893 nach Halle a. d. S. (ebenfalls Saint-Saëns, g-Moll-Konzert) und 1894 nach Paris. Dort gab sie am 9. Febr. mit dem am Conservatoire ausgebildeten Violoncellisten Achille-Antoine Vandœuvre in der Salle Érard ein Kammerkonzert, das der Pariser Korrespondent der „Berliner Musikalischen Zeitung“ als „une des séances musicales les plus intéressantes qui aient eu lieu cet hiver“ („eine der interessantesten Musikveranstaltungen dieses Winters“, Bock 1894, S. 122) bezeichnete. „Mlle. Goetz-Lehmann est une nouvelle venue pour le public parisien; mais, dès ce premier soir, elle a su conquérir son rang. C’est une pianiste du talent le plus rare; depuis longues années, je n’avais pas entendu les œuvres classiques exécutées comme elles doivent l’être, et voici qu’on nous les restitue enfin, interprétées avec une merveilleuse entente du style qui leur est propre, avec une sobriété, une fermété, une délicatesse véritablement admirables. Dans la Gavotte de Bach, et des œuvres plus récentes de Chopin et de Stephen Heller, Mlle. Goetz-Lehmann a mérité les éloges les plus vifs. Encore un coup, il y a là une intelligence musicale et un style absolument exceptionnels“ („Mlle. Götz-Lehmann ist für das Pariser Publikum eine neue Erscheinung; sie hat aber seit diesem ersten Abend ihren Platz erobert. Es handelt sich um eine Pianistin von außergewöhnlichstem Können; seit vielen Jahren hatte ich die klassischen Werke nicht so spielen gehört, wie sie gespielt werden müssen; und nun gibt man sie uns endlich wieder, mit einem wunderbaren Verständnis des ihnen eigenen Stils, mit einer Klarheit, einer Sicherheit und einer Empfindung, die wirklich bewundernswert sind. Mit einer Gavotte von Bach sowie neueren Kompositionen von Chopin und Stephen Heller hat Mlle. Götz-Lehmann wahre Begeisterungsstürme hervorgerufen. Wieder einmal haben wir es mit einer musikalischen Intelligenz und einer Stilsicherheit zu tun, die ganz außergewöhnlich sind“, ebd.1894, S. 134). Auch der „Figaro“ lobte sie als „pianiste d’un talent incontestable“ („Pianistin von unbestreitbarem Können“, Figaro 14. Febr. 1894).

Weitere auswärtige Erfolge konnte Auguste Götz-Lehmann am 1. Nov. 1894 in St. Gallen im 1. Abonnementkonzert (Konzert a-Moll von Edward Grieg), am 4. Jan. 1895 in Wien und am 9. Nov. 1898 in Rudolstadt im 2. Hofkapell-Konzert feiern, wo sie, wiederum unter Rudolph Herfurth, Mendelssohns Konzert g-Moll zur Aufführung brachte: „Ein wundervoll weicher Anschlag, eine auf vollendete Technik gegründete Sauberkeit in allen Vigurationen [sic] und Verzierungen, befähigen die Künstlerin für Mendelssohn gerade ganz besonders. So duftig haben wir lange keine Passagen im Piano gehört. Dabei ist auch die sogenannte Brillanz, der große Ton, da wo er hingehört nicht zu vermissen. Eine noble künstlerische Auffassung verbunden mit jugendlicher Begeisterung machten ihre Darbietungen um so hinreißender. Von den Claviersolostücken besitzt das Chopin’sche (Polnisches Lied) den größten musikalischen Werth. Auch hier zeigte sich die Künstlerin von selbständiger Auffassung. Moszkowsky und Tausig gaben ihr dann Gelegenheit alle Teufeleien der Technik loszulassen“ (NZfM 1898, S. 552). Nach einem Kammerkonzert am 18. Nov. 1898 in München widmete ihr auch der Münchner Korrespondent der „Neuen Zeitschrift für Musik“ eine außergewöhnlich lobende Besprechung: Auguste Götz-Lehmann „läßt Jedem seine Eigenart, weiß sich dieser durchaus anzupassen, und dabei dennoch ihre eigene innere Persönlichkeit nicht preiszugeben. Ludwig van Beethoven, Frédéric Chopin, Anton Rubinstein, Moritz Moszkowsky, Strauß-Tausig, Peter Tschaikowsky − nicht Einer von ihnen kam durch Auguste Goetz-Lehmann zu kurz. Ihr Spiel zeichnet sich durch klare, deutliche Phrasirung aus und ist von perlender, reiner Geläufigkeit. Ihr Anschlag ist kräftig, aber niemals hart, ihre Vortragsweise leicht und gefällig. […] Das rein Aeußerliche ihres Spieles in Betracht gezogen, so darf dieses ganz gewiß sogar mustergiltig genannt werden. Ein ganz herrlich lockeres Handgelenk, eine schöne, ungezwungene Haltung, ein tadelloser Fingersatz, und eine Ruhe der Arme, von welcher ein ganzes Heer von Clavierconcertanten nur lernen könnte...“ (NZfM 1898, S. 539).

Auch in Berlin konzertierte Auguste Götz-Lehmann regelmäßig, etwa im Jan. und Febr. 1897 bei den Franz-Schubert-Feiern im Schiller-Theater und bei Vortragsveranstaltungen von Anna Morsch über „Zeitgenossen und Anhänger Mendelssohn’s und Schumann’s“ (Der Klavier-Lehrer 1899, S. 120) am 13. Apr. 1899 (Wiederholung in Breslau). Zu diesen „Vortrags- und Konzert-Abenden“ (ebd., S. 121) steuerte Auguste Götz-Lehmann Werke von Ignaz Moscheles, William Sterndale Bennett, Ferdinand Hiller, Adolf Jensen und Theodor Kirchner bei. Auch ein Trio von Niels Gade kam in diesem Rahmen zur Aufführung, musiziert mit Elsa Barkowska (Violine) und Adelina Metzdorff (Violoncello). Dieses Instrumental-Trio hatte wenige Wochen zuvor, am 7. März 1899, in der Berliner Singakademie debütiert und war für sein „künstlerisches, technisch und musikalisch abgerundetes Zusammenspiel“ (Der Klavier-Lehrer 1899, S. 79) gewürdigt worden. „Die Damen spielten Mendelssohn’s D-moll-Trio, op. 49 und Rubinstein’s B-dur-Trio, op. 52 mit ungemeiner Frische, Lebendigkeit und musikalischer Feinfühligkeit, ganz besonders flott, rhythmisch straff und fortreissend kamen die Scherzi der beiden Trio’s zur Aufführung und verfehlten ihre zündende Wirkung auf das Publikum nicht“ (ebd.).

Auch im folgenden Jahr ist noch ein Auftritt des Ensembles belegt. Danach verliert sich die Spur von Auguste Götz-Lehmann.

 

LITERATUR

Bock 1890, S. 105; 1893, S. 167, 554; 1894, S. 47, 122

Le Figaro [Paris] 14. Febr. 1894

Fremdenblatt [Wien] 4. Juni 1869

FritzschMW 1890, S. 332; 1891, S. 307; 1899, S. 444

Grazer Tageblatt 8. März 1898

Der Klavier-Lehrer 1890, S. 85; 1892, S. 294; 1899, S. 79, 121f.

Die Lyra 1897, S. 123

Die Musik 1901/02 II, S. 1125

NZfM 1898, S. 539, 551f.; 1899, S. 46, 82, 317; 1900, S. 21

Österreichische Musik- und Theaterzeitung 1985, H. 7, S. 11

Signale 1892, S. 154, 967, 1048; 1894, S. 939; 1895, S. 887; 1899, S. 888; 1900, S. 1032

Straubinger Tageblatt 12. Mai 1870

Tonhalle 1870, S. 278, 315, 360

Über Land und Meer. Allgemeine Illustrirte Zeitung 1869, S. [754], 755

Carl Stumpf, Tonpsychologie, 2 Bde., Bd. 1, Leipzig 1883.

Alfred Dörffel, Geschichte der Gewandhausconcerte zu Leipzig vom 25. November 1781 bis 25. November 1881, Leipzig 1884, Repr. Walluf 1972.

Anna Morsch, Deutschlands Tonkünstlerinnen. Biographische Skizzen aus der Gegenwart, Berlin 1893.

Illustriertes Konversations-Lexikon der Frau, 2 Bde., Bd. 2, Berlin 1900. (Art. „Musikerinnen“)

Peter Muck, Einhundert Jahre Berliner Philharmonisches Orchester, 3 Bde., Bd. 3: Die Mitglieder des Orchesters, die Programme, die Konzertreisen, Erst- und Uraufführungen, Tutzing 1982.

Hans-Otto Schembs, Vom Saalbau zu den Bürgerhäusern. Die Geschichte der Saalbau-Aktiengesellschaft und der Saalbau GmbH in Frankfurt am Main, Frankfurt a. M. 1989.

Silke Wenzel, Auguste Götz-Lehmann, in: MUGI. Musik und Gender im Internet, http://mugi.hfmt-hamburg.de/Artikel/Auguste_G%C3%B6tz-Lehmann, Zugriff am 24. Aug. 2015.

 

Bildnachweis

Über Land und Meer 1869, S. [754]

 

Freia Hoffmann

 

 

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