Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

KalergisKalergis-Muchanow, von Mouchanoff-Kalergis, Kalergi, Kalergy, Kalerchi, Mouchanoff, Muchnoff, Muchnov, Maria, Marie, geb. (Gräfin) Nesselrode

* 7. Aug. 1822 in Warschau, † 22. Mai 1874 in Warschau, Pianistin und Kunstmäzenin. Maria Kalergis stammt aus der ursprünglich niederrheinischen Diplomatenfamilie Nesselrode. Ihr Vater, Friedrich Carl Reichsgraf von Nesselrode-Ereshoven (1786–1868), Generalleutnant der kaiserlich-russischen Armee und Adjutant des russischen Großfürsten Konstantin, war deutscher Herkunft, die Mutter, Tekla geb. Nałęcz Górska (?–1848), eine gebürtige Polin. Maria Kalergis sprach fließend Deutsch, Polnisch, Russisch, Französisch, Englisch und Italienisch. Der Diplomat Gustav Blome nannte sie française par la tournure de son esprit, allemande par ses qualités sérieuses et polonaise par ses enthousiasmes” („Französin in ihrer Denkweise, Deutsche in ihren zuverlässigen Eigenschaften und Polin in ihrer Begeisterungsfähigkeit“, Brief von Gustav Blome an Louis de Pons vom 8. Sept. 1854, zit. nach Lamberts, S. 206).

Die Eltern heirateten 1821, ließen sich aber bereits ein Jahr nach der Geburt ihrer Tochter wieder scheiden. Ab ihrem sechsten Lebensjahr (1828) wuchs Maria Kalergis bei einem Vetter ihres Vaters, dem russischen Diplomaten Karl Robert Graf von Nesselrode-Ehreshoven (1780–1862), in St. Petersburg auf. Gemeinsam mit dessen Kindern erhielt sie eine umfassende Erziehung, die auch einen musikalischen Schwerpunkt enthielt, da man davon ausging, dass die Musik bei ihrem familiären Hintergrund einmal lebenssichernd sein könnte. Broterwerb war jedoch nicht nötig, denn am 3. (15.) Jan. 1839 heiratete die 17-Jährige den reichen griechischstämmigen Adeligen Jan Kalergi (1814?–1863), von dem sie sich ein Jahr später ohne Scheidung wieder trennte. Die gemeinsame Tochter Marie Kalergi (1840–1877) begründete 1857 durch ihre Hochzeit mit dem österreichischen Politiker Franz Karl Graf Coudenhove (1825–1893) den Familienzweig Coudenhove-Kalergi. Musik, Kunst, Mäzenatentum, internationale Kontakte, Adel und Politik waren die Konstanten in Maria Kalergis Leben.

Nach der Hochzeit reiste Maria Kalergis mit ihrem Mann nach London, kehrte aber nach der Trennung nach St. Petersburg zurück. 1843 zog sie aus gesundheitlichen Gründen nach Italien. Zwischen 1847 und 1858 lebte sie in Paris, wo sie in der Rue dAnjou einen literarischen Salon führte, in dem neben Dichtern und Schriftstellern zahlreiche berühmte Musiker, Künstler und Politiker ein und aus gingen. Nach der Heirat ihrer Tochter verlegte Maria Kalergis den Salon 1857 nach Warschau. 1860 ging sie nach Wien, hielt sich auch mehrfach in Kurorten auf, von denen sie seit 1856 Baden-Baden bevorzugte, und lebte schließlich abwechselnd in Baden-Baden, Warschau, St. Petersburg und Paris.

In Warschau lernte sie den elf Jahre jüngeren Sergej Muchanow (1833–1897) kennen, einen russischen Offizier, der sich 1861 in der polnischen Hauptstadt niederließ, 1862 dort Polizeichef wurde und zwischen 1868 und 1880 mit großem künstlerischem Erfolg das Direktorat der Warschauer Theater, also die Oberaufsicht über sämtliche polnischen Theater innehatte. Nach dem Tod von Jan Kalergi heiratete das Paar am 30. Sept. 1863 in Baden-Baden. Anschließend erkrankte Maria Kalergis psychisch. Ab Ende der 1860er Jahre quälten sie starke, offenbar rheumatische Schmerzen. Die unmittelbare Todesursache war Unterleibskrebs.

Auch wenn Maria Kalergis sich wegen ihrer adeligen Herkunft und ihrer finanziellen Absicherung nicht als Berufsmusikerin betätigte, wurde ihr Klavierspiel hoch geschätzt. Zwischen 1857 und 1871 lassen sich regelmäßig Auftritte nachweisen. Die „Neue Berliner Musikzeitung“ meldet 1861 aus Berlin: „Frau Gräfin Marie [sic] Kalergis, geb. Gräfin Nesselrode, eine der Kunstwelt rühmlichst bekannte geistreiche Pianistin, ist aus St. Petersburg hier eingetroffen und hatte die Ehre, am 3. d. [Juni] zu einer Soirée in das Kgl. Palais gezogen zu werden“ (Bock 1861, S. 188). Im Jahre 1858 berichtet dasselbe Organ: „Baden-Baden. In einem von Hrn. Alary gegebenen Concerte spielte die Gräfin Kalergis die Kreutzer-Sonate von Beethoven mit [dem Paganini-Schüler Ernesto Camillo] Sivori“ (Bock 1858, S. 388) und notiert aus Warschau: „Die Gräfin Kalergis hat ein Concert arrangirt, um dem Componisten Moniuszko die Reise nach Italien zu ermöglichen; sie selbst trug eine Fantasie von Chopin (op. 66) [Fantasie-Impromptu Nr. 4 cis-Moll] und dessen [Moniuszkos] Fantasie op. 71 vor. Die Einnahme betrug 30,000 Fr.“ (Bock 1858, S. 168). Aus Baden-Baden meldet die „Neue Zeitschrift für Musik“ 1859: „In der nächsten Sonntagsmatinée (7. August) sollen wir die Chopin’sche [Violoncello-]Sonate von der Gräfin Kalergis (einer ganz ausgezeichneten Pianistin) und [dem Violoncellisten Bernhard] Coßmann [...] hören“ (NZfM 1859 II, S. 59). Im Herbst 1857 schrieb Maria Kalergis aus Baden-Baden an ihre Tocher, „J[…]ai donné une charmante soirée musicale avec Wieniawski, qui est aujourd’hui le premier virtuose du monde. Cest un talent de génie dans le genre de Liszt [...]. Nous avons joué ensemble des trios, le quintette de Schumann et enfin les célèbres variations de Beethoven“ („Ich habe mit Wieniawski, der heute weltweit der erste Virtuose ist, eine reizende musikalische Soirée gegeben. Er hat wie Liszt ein geniales Können [...]. Wir haben gemeinsam Trios und das Quintett von Schumann gespielt und schließlich die berühmten Variationen von Beethoven“, La Mara, S. 31).

 

Cyprian Kamil Norwid, Maria Kalergis mit Rosen im Haar (um 1848).

 

Auffällig sind ihre Bevorzugung anspruchsvoller Werke und ihre Wertschätzung der Kammermusik, insbesondere mit namhaften Partnern. Regelmäßig machte Maria Kalergis sich zur künstlerischen Anwältin polnischer Komponisten, auf deren Schicksal sie bei Wohltätigkeitskonzerten oder bei Auftritten in der gehobenen Gesellschaft zugleich unmittelbaren Einfluss nehmen konnte. Schon früh wurde ihr Name insbesondere mit der Musik Chopins verbunden, dessen Schülerin sie ab 1847 zeitweilig war. Chopin schätzte ihre Begabung; im Januar 1848 schreibt er über seine Schülerin: „En vérité, elle joue très bien et remporte à tous les points de vue infiniment de succès“ („In der Tat spielt sie sehr gut und erringt in jeder Hinsicht höchsten Erfolg“, Chopin, Correspondance, S. 312). Pauline Metternich-Sandor bekennt: „Ich habe nie mehr Chopin so spielen hören wie von ihr“ (zit. nach La Mara, S. VI), und Franz Liszt erinnert sich: „Elle jouait comme personne, et ceux qui l’ont entendue n’oublieront jamais son jeu, ou, pour mieux dire, son interprétation unique“ („Sie spielte wie niemand sonst, und diejenigen, die sie gehört haben, werden niemals ihr Spiel, oder besser gesagt ihre einzigartige Interpretation vergessen“, zit. nach La Mara, S. VI). Der Diplomat Horace Rumbold schreibt: „I do not think it possible to hear anything more perfectly enthralling than her rendering of the compositions of Schumann or Chopin. She had been one of the latters favourite pupils, and, with the exception of one other person, she alone, to my mind, gave to his works their true expression. At the piano she was simply irresistible, but there fortunately ceased her charm as far as I was concerned, however sincere was my admiration of her beauty and her brilliant gifts“ (Rumbold, S. 219).

Von Kindheit an hatte Maria Kalergis selbstverständlich mit den Großen ihrer Zeit Umgang und verkehrte ebenso in den höchsten Adels- und Diplomatenkreisen wie mit Berühmtheiten aus Kunst, Literatur und Musik, die sie dann auch in ihren Salons zu Gast hatte. Ihre Bewunderer rühmten neben ihrer Klugheit auch ihre auffällige Schönheit, die ihr den Beinamen „die weiße Sirene“ einbrachte. Über den moralischen Aspekt ihres Lebens wurde unterschiedlich geurteilt. Ihre Briefe an die Tochter und den Schwiegersohn zeigen sie als eine kluge, politisch interessierte, öffentlich präsente, aber stark auf ihre Privatsphäre bedachte Frau mit melancholischen Zügen.

Maria Kalergis unterstützte Künstler aller Sparten mit großem persönlichem und finanziellem Einsatz, wenn auch zumeist aus dem Hintergrund. Sie engagierte sich für die Gründung der Warschauer Musikgesellschaft und des Warschauer Musikinstituts (Vorgängerinstitution des Warschauer Konservatoriums) und förderte u. a. Stanisław Moniuszko und Richard Wagner. Obwohl sie mit dem zweiten Akt von Tristan und Isolde, den Wagner ihr gemeinsam mit Pauline Viardot-García und Karl Klindworth am Klavier vorspielte, nur wenig anfangen konnte, nannte sie diesen Komponisten doch „le plus grand génie du monde germanique“ („das größte Genie der deutschen Kultur“, Maria Kalergis an Marie Coudenhove am 11. Juli 1870; La Mara, S. 244). Ihr künstlerisches Urteilsvermögen zeigte sich ebenfalls bei Johannes Brahms, der in Baden-Baden regelmäßig ihr Gast war; er schien ihr, dans un autre genre que Wagner, le premier compositeur de lépoque“ („auf anderem Gebiet als Wagner, der erste Komponist der Epoche“, Maria Kalergis an Franz Coudenhove am 23. Aug. 1866; La Mara, S. 182). Auch ihr Interesse für bildende Kunst, vor allem für die Münchener Malerschule, war groß (vgl. La Mara, S. 59).

Musikalisch folgenreich gestaltete sich die enge Bekanntschaft mit Franz Liszt, der ihr mehrere Klavierwerke widmete, auf ihren Tod seine Elegie première (1875) komponierte und am 17. Jun. 1875 in Weimar eine Gedenkveranstaltung abhielt – „eine Art Hof-Concert im kleinen Tempelhäuschen im Park. [...] Die Kompositionen des Programms waren von ihm: Requiem für Männerstimmen, Ave Maria, Hymne de lenfant, eine Legende Cécile und eine Elegie für Harmonium und Streichinstr., nach ihrem Tod komponirt –‚ ein Wiegenlied im Grabe, wie Liszt es mir nannte. Das ganze Programm auserlesene Musik –  aber die Ausführung! [...] So ward die Todtenfeier fast zur Katzenmusik, die vor dem Bilde der Gefeierten, das lebensgroß, von Lenbach in Öl gemalt, aufgestellt war, sich abspielte (Ramann/Lisztiana 1983, S. 51).

Johann Strauss Sohn dedizierte ihr den Schneeglöckchen-Walzer op. 143 (1854), Carl Tausig seine beiden Konzertetüden op. 1. Richard Wagner widmete ihr die Schrift Das Judenthum in der Musik (Ausgabe 1869), die ihr trotz weniger Einwände „aus dem Herzen geschrieben“ war (La Mara, S. 215f.). Das ursprünglich „Die schöne Kalerchi“ überschriebene Gedicht Der weiße Elephant (aus Romanzero) von Heinrich Heine, Theophile Gautiers Huldigungsgedicht Symphonie en blanc majeur (Sinfonie in Weiß Dur) und die von Maria Kalergis inspirierte dreiaktige Tragödie Pierścień Wielkiej Damy (Der Ring der großen Dame) von Cyprian Kamil Norwid sind weitere Zeichen der respektvollen oder schwärmerischen Verehrung, die Maria Kalergis entgegengebracht wurde – ebenso wie zahlreiche Porträts und Porträtskizzen, unter anderem mehrere Ölgemälde von Franz von Lenbach.

 

LITERATUR

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Bock 1858, S. 168, 388; 1861, S. 188

NZfM 1859 II, S. 59

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Hans von Bülow, Briefe, 8 Bde., Bd. 5, Leipzig 1904.

Lenbach-Ausstellung München 1905. Dem Andenken Franz von Lenbachs, München 1905.

Carl Friedrich Glasenapp, Das Leben Richard Wagners, 6 Bde., Bd. 3, Leipzig 1905.

Max Kalbeck, Johannes Brahms, 4 Bde., Bd. 2, 1. Halbband, Berlin 11908 bzw. 31912.

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Lilli Lehmann, Mein Weg, Leipzig 1913.

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Constantin Photiadès, La „Symphonie en blanc majeur“. Marie Kalergis née comtesse Nesselrode (1822–1874), Paris 1924.

Richard Wagner, Mein Leben, München 1963.

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[Chopin,] Correspondance de Frédéric Chopin. La gloire, 1840–1849, hrsg. von Bronisław Edward Sydow, Paris 1981.

Curt von Westernhagen, Wagner. A biography, Cambridge 1981.

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Zum 2. Ehemann, Siergiej Siergiejewicz Muchanow: http://en.wikipedia.org/wiki/Siergiej_Muchanow, Zugriff am 22. Juli 2011.

 

Bildnachweis

National Digital Library Polona, http://www.polona.pl/dlibra/doccontent2?id=7890&from=editionindex&dirids=4, Zugriff am 22. Juli 2011.

 

Kadja Grönke

 

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