Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

Dickenson-AunerAuner, Mary (Frances Dorothée, Dorothea), geb. Dickenson

* 12. Dez. 1880 in Dublin, † 25. Mai 1965 in Wien, Violinistin, Organistin, Violinlehrerin und Komponistin. 1905 bis 1913 komponierte sie unter dem Pseudonym Frank Donnell.

Mary Dickenson-Auner wurde als drittes der vier gemeinsamen Kinder von Augustus Maximilian Newton Dickenson, einem Doktor der Medizin, und der neun Jahre älteren Mary Frances MacDonnell geboren. Bis zum frühen Tod des Vaters im Jahr 1883 lebte die Familie Dickenson mit zwei weiteren Töchtern aus der ersten Ehe der Mutter in einem Dubliner Vorort. Danach übersiedelte die Witwe mit allen Kindern nach Wiesbaden. Dort erhielt Mary Dickenson im Alter von sechs Jahren auf ihr eigenes Verlangen hin den ersten Geigenunterricht, inspiriert von den Violinstunden ihres ältesten Bruders Cecil. In ihrer Autobiographie berichtet Mary Dickenson-Auner von der Vehemenz ihrer Forderung, die gleichsam ein richtungsweisendes Präludium zu vielen in Zukunft noch auszufechtenden Kämpfen um eine fundierte musikalische Ausbildung darstellen sollte: „Ich ließ meiner Mutter keine Ruhe, ich wollte auch Geigenstunden haben, und endlich gab sie meinem stürmischen Drängen nach“ (zit. nach Engelhardt-Krajanek 2000, S. 119f.). Noch über Jahre hinweg galt es für Mary Dickenson, die früh eine musikalische Karriere anstrebte, sich gegen die Widerstände von Familie und Vormund durchzusetzen, was sie auch mit aller Konsequenz tat. Unterstützung erfuhr sie dabei von ihrem Großvater mütterlicherseits, dem Rechtsanwalt Sir Hercules MacDonnell, welcher maßgeblich an der Universitätsreform des Trinity College und der Royal Irish Academy of Music beteiligt war. Nach einigen Jahren in einem Düsseldorfer englischen Mädchenpensionat, die sich in musikalischer Hinsicht als eher frustrierend herausstellten, folgte Mary Dickenson im Alter von 16 Jahren ihrer Mutter nach England, wo sie am Musikkonservatorium von Croydon (Surrey) Violinstunden bei Samuel Coleridge Taylor (1875–1912) nahm und auch in zwei Konzerten, am 4. Febr. und am 1. Apr. 1898, öffentlich auftrat. Taylor, dessen Gipsy Suite op. 20 sie am 4. Febr. zur Aufführung brachte, machte sie auch zur Widmungsträgerin mindestens eines seiner Werke. Er dürfte sie auch in Komposition unterrichtet haben. Im Anschluss an das Studium in Croydon folgte ein vergleichsweise kurzes Intermezzo an der Royal Irish Academy of Music, wo sie zu einer Assistentin von Guido Papini avancierte und in dieser (nicht mit offiziellen Dokumenten belegten) Position nach eigener Angabe eine „Kammermusikstunde“ ins Leben rief. Bedeutsamer für Mary Dickensons Ausbildung jedoch war ihre Zeit an der Royal Academy of Music in London, wo Émile Sauret (1852—1920) von 1899 bis 1902 ihr Lehrer war. Im Jahr 1900 studierte sie zudem als Nebenfächer Gesang und Orgel, wobei insbesondere das letztere Instrument sie zunehmend fesselte. Dennoch blieb die Violine das Instrument ihrer Wahl. Nachdem Sauret in die USA berufen wurde, folgten zweijährige Studien bei Otakar Ševčík (1852–1934) in Prag, von denen sich Mary Dickenson eine bessere Technik der linken Hand versprach. Ein „erstes großes Konzert mit der Berliner Philharmonie“ (zit. nach Engelhardt-Krajanek 2000, S. 143) im März 1906 leitete eine etwa achtjährige Phase besonders intensiver und erfolgreicher Konzerttätigkeit ein, während derer Mary Dickenson erst von Berlin und später von Wien aus zahlreiche Konzertreisen unternahm. In Wien – viele Schülerinnen waren ihr aus Deutschland hierhin gefolgt – lebte sie ab 1909 zusammen mit ihrer Mutter. Am 26. Dez. 1912 heiratete Mary Dickenson den Diplomaten Dr. Michael Auner und ließ sich mit ihm in Hermannstadt (Siebenbürgen) nieder. Hier erblickten die gemeinsamen Kinder Moira (1914) und Michael (1916) das Licht der Welt. Doch bereits 1917, nachdem ihr Ehemann zum Militärdienst eingezogen worden war, floh Dickenson-Auner mit ihren beiden Kindern vor den Auswirkungen des Ersten Weltkriegs über Wien in die Niederlande auf ein Gut in der Nähe von Bussum. Seit ihren Prager Jahren wurde sie stets begleitet von ihrer Gefährtin Marie Štiková, genannt „Teta“. In den Niederlanden, wo Kritiken insbesondere ihren warmen und noblen Ton rühmten, bestritt Dickenson-Auner mit Auftritten als Violinistin den Lebensunterhalt für ihre Kinder und sich selbst, bis eine Rückkehr nach Wien im Herbst 1920 und somit die Wiedervereinigung der Familie möglich war. Dort spielte Mary Dickenson-Auner 1922 zusammen mit Eduard Steuermann die österreichische Erstaufführung der Violinsonate Nr. 1 op. 21 von Béla Bartók, den sie, ebenso wie Schönberg, persönlich kannte. Mit beiden Komponisten arbeitete sie im Rahmen verschiedener Projekte zusammen. Ab 1927 bis in die Zeit des Dritten Reiches wandte sie sich auf ehrenamtlicher Basis einem von ihr neu konzipierten musikpädagogischen Projekt zu, den „Hörstunden“, in deren Rahmen insbesondere Kinder in Wiener Volksschulen altersgerecht an Kunstmusik herangeführt werden sollten. Während des Zweiten Weltkriegs wurde über Dickenson-Auner aufgrund ihrer britischen Staatsbürgerschaft Auftrittsverbot verhängt. Auch fielen Umwälzungen ihres Privatlebens in diese Phase: Nach der einvernehmlichen Scheidung von ihrem Mann 1934 widmete sich Mary Dickenson, zwangsläufig zurückgezogen von den öffentlichen Bühnen, zunehmend ihrer kompositorischen Tätigkeit. Neben einer großen Anzahl kammermusikalischer Werke verfasste sie drei Opern, zwei Oratorien und fünf Symphonien. Dabei wirkten  irisches Nationalkolorit und ihre Identifikation mit theosophischem Gedankengut – seit 1938 war sie Mitglied der Theosophischen Gesellschaft, daneben auch in der Freimaurerei aktiv – bestimmend für ihren auf Polyphonie aufbauenden Personalstil, den sie selbst als „Celtic Impressionism“ (Scéala Éireann 17. Apr. 1958) bezeichnete.

 

Mary Dickenson-Auner, ca. 20 Jahre alt, Photographie.

 

Später widmete sich Dickenson-Auner auch der Pflege anderer zeitgenössischer Musik, wie etwa jener von Reger und Busoni. Sie war Mitglied in der „Österreichischen Gesellschaft für zeitgenössische Musik“ und in Schönbergs „Verein für musikalische Privataufführungen“. Neben ihren Kompositionen hinterließ Dickenson-Auner selbstverfasste Libretti, Lyrik und Schriften in Verbindung mit der Theosophischen Gesellschaft. Als Interpretin konzentrierte sich Mary Dickenson-Auner überwiegend auf Literatur der Hoch- und Spätromantik. Unter anderem brachte sie die Violinkonzerte sowie die Schottische Fantasie op. 46 von Bruch zur Aufführung, welche wie die Symphonie Espagnole von Lalo zu ihren Paradestücken zählten und über viele Jahre hinweg fester Bestandteil ihres Repertoires blieben. Daneben konzertierte sie jedoch auch erfolgreich mit Beethovens Violinkonzert, dessen kraftvolle Interpretation unter anderem durch die „Musical Times“ vom 1. März 1913 hervorgehoben wird: „Miss Mary Dickenson showed exceptional powers as a violinist at Queens Hall on February 13, when she gave a concert with the assistance of the National Symphony Orchestra under Mr. Hamilton Harty. Beethovens Concerto was powerfully interpreted“ (MusT 1913, S. 182). In demselben Organ äußert sich neun Jahre später Paul Bechert zur Uraufführung von Bartóks erster Violinsonate, indem er sowohl die ausführenden Musiker als auch den Komponisten selbst würdigt: „To Mrs. Dickenson-Auner also fell the distinction of being chosen by Béla Bartók for the first performance anywhere of his new Violin Sonata, which is still in MS. This composition, which has since been performed in London as well, created a deep impression here by virtue of its strongly personal and national touches. An equal share of admiration fell to the lot of Mrs. Dickenson-Auner and to her partner, Eduard Steuermann, a Viennese pianist from the Schönberg group, who, in their interpretation of this piece, displayed remarkable technical resources and admirable interpretative powers“ (MusT 1922, S. 515).

 

WERKE

Kammermusik für Violine

Irish Love Song für Violine und Klavier o. op., 1908; Canon für 2 Violinen No 1—4 op. 9, 1909/1910; Caoine (Lament) für Violine mit Klavierbegleitung o. op., 1910; Caoine (Lament) für Violine und Klavier o. op., 1911; Irish Melody für Violine und Klavier o. op., 1911; Trischka für Violine und Klavier o. op., 1912; 1. Irisches Streichquartett o. op. 1941; 2. Irisches Streichquartett o. op., 1942; 3. Streichquartett (Londonderry Air) op. 23, 1944; Klarinettenquintett op. 26, 1949; Suite für Solovioline in 4 Sätzen op. 30, 1949; 4. Streichquartett op. 31, 1949.

Violine und Orchester

Variationen d-Moll für Violine und Orchester op. [13] 2, 1909; Romanze D-Dur für Violine und Orchester op. 10, 1910; Caoine (Lament) für Violine und Orchester o. op., 1911; Trischka für Violine und Orchester o. op., 1912; 2. Irisches Violinkonzert o. op., 1914; Irisches Märchen für Violine und Orchester o. op. 1921; 2. Konzert für Violine und Orchester o. op., 1942; Kadenz zu Ludwig van Beethovens Violinkonzert (Variation B) o. op., 1918.

Orgel und Orchester

Variationen und Fuge über ein Irisches Volkslied (The Ministrel Boy) für Orchester und Orgel op. 30, 1943.

 

LITERATUR

Mary Dickenson-Auner, Vom Wandelbaren zum Ewigen. Ein Wegweiser, Wien 1952.

Heiratsurkunde Auner-Dickenson, Pfarrgemeinde A.B., Wien-Innere Stadt, 1921/239. Mit herzlichem Dank für den Hinweis an Dale R. Steiner.

Algemeen Handelsblad [Amsterdam] 11. Okt. 1918

MusT 1913, S. 182; 1922, S. 515

Scéala Éireann 17. Apr. 1958

MGG 2001

Margarethe Engelhardt-Krajanek, Mary Dickenson-Auner. Violinistin – Pädagogin – Komponistin. Leben und Werk, Wien 1995.

Margarethe Engelhardt-Krajanek, „Mary Dickenson-Auner (1880–1965)“, in: Kay Dreyfus [u. a.], Die Geige war ihr Leben. Drei Frauen im Portrait (= Frauentöne 4), Strasshof 2000, S. 99–231.

Friedrich Frick, Kleines Biographisches Lexikon der Violinisten. Vom Anfang des Violinspiels bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, Norderstedt 2009.

Österreichische Gesellschaft für zeitgenössische Musik, www.oegzm.at/de/mitglieder/ehemalige-mitglieder.php, Zugriff am 28. Juni 2011.

 

Bildnachweis

Engelhardt-Krajanek 2000, S. 134.

 

Michaela Krucsay

 

© 2012 Freia Hoffmann