Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

Try, Eliza, Elisa de, verh. Doutrelon

* 2. Aug. 1846 (anderen Quellen zufolge 1847 oder 1848) in Cambrai, † 1922 in Lille, Violoncellistin. Die unterschiedlichen Angaben über das Geburtsjahr hängen vermutlich mit ihren Auftritten als Kindervirtuosin zusammen, wobei es üblich war, das Alter möglichst niedrig anzugeben. Nach anfänglicher Unterweisung durch ihren Vater Charles de Try, Kapellmeister beim Erzbischof von Cambrai, wurde sie am Konservatorium in Brüssel von 1863 bis 1864 von Adrien-François Servais (1807−1866) ausgebildet, schloss das Studium mit dem ersten Preis ab und erhielt auch Unterricht von Auguste Franchomme (1808−1884) in Paris. Bei ersten Auftritten 1862 in Paris fiel die junge Musikerin auf durch „un jeu ferme, concis, plein de grâce et de qualités expressives“ („entschlossenes und präzises Spiel, voller Anmut und Ausdruck“, RGM 1862, S. 142); die 16-Jährige besitze bereits „la facilité de mécanisme et l’aplomb des grands maîtres“ („die Leichtigkeit der Technik und die Sicherheit der großen Meister“, RGM 1862, S. 399). Bis 1873 lassen sich zahlreiche Konzerte in Paris, Boulogne-sur-mer, St. Quentin und Lille (1862), Cambrai, Brüssel und Valenciennes (1865), Den Haag, Calais, Cambrai, Brüssel, Beauvais und Laon (1866), Angers, Chalon-sur-Saône, Auxerre, Amiens, Nantes, Troyes und Rennes (1867), Valenciennes und Arras (1868), Bordeaux (1869), Straßburg (1870) und Tours (1873) nachweisen. Auslandsreisen führten sie nach Spanien, in die Niederlande (1865/66), nach Lissabon (1869) und New York (1871). Ihr Repertoire bestand aus Werken von Nicolas Dalayrac (1753−1809), Bernhard Romberg (1767−1841), Adrien-François Servais (1807−1866), Camillo Sivori (1815−1894), Hippolyte Prosper Seligmann (1817−1862) und Georg Goltermann (1824−1898).

Eliza de Trys Vater war „a masterly performer on the violoncello himself“ (All the Year Round 1862, S. 353), hatte seine Ausbildung ebenfalls am Brüsseler Konservatorium erhalten und konzertierte gelegentlich gemeinsam mit ihr. Dass die Tochter vom Vater an seinem Instrument ausgebildet wurde, war in Musikerfamilien keineswegs selten. Eine solche Konstellation gab es auch bei der Violoncellistin Rosa Suck. Dennoch ist die Instrumentenwahl Eliza de Trys, „qui par suite de circonstances toutes spéciales s’est adonnée à l’étude du violoncelle“ („die sich aufgrund ganz besonderer Umstände dem Studium des Violoncellos gewidmet hat“, RGM 1866, S. 54) der Presse immer wieder Rechtfertigungen wert. „De bonne heure elle s’est prise de belle passion pour l’instrument qu’un peintre a cru pouvoir placer entre les mains de sainte Cécile“ („frühzeitig hegte sie eine schöne Leidenschaft für das Instrument, das ein Maler meinte in die Hände der Heiligen Cäcilia legen zu können“, RGM 1865, S. 114). Der Verweis auf Darstellungen der Heiligen Cäcilia mit einem Bass-Instrument (z. B. von Domenichino um 1620) durchzieht die Pressetexte über sie ähnlich stereotyp wie diejenigen über ihre Vorgängerin Lise Cristiani (Le Monde dramatique 24. Apr. 1862, S. 4; Le Ménestrel 1862, S. 134, 176, 175; RGM 1865, S. 114; NZfM 1866, S. 110). Der „Courrier du Nord“ lobt die Musikerin nach ihrem Konzert in Valencienne überschwänglich, setzt aber hinzu: „On a peine à comprendre comment elle a été conduite à choisir un instrument jusqu’ici exclusivement réservé au sexe fort, qui, dans ses mains, à la vérité, devient très-gracieux“ („Man hat Mühe zu verstehen, was sie bewogen hat ein Instrument zu wählen, das bisher ausschließlich dem starken Geschlecht vorbehalten war, das in ihren Händen aber tatsächlich sehr anmutig wirkt“, zit. nach Le Ménestrel 1865, S. 103).

Auffallend ist die wiederkehrende Betonung ihrer „force remarquable“ („bemerkenswerten Kraft“, Le Ménestrel 1862, S. 206), ihrer „virtuosité si pleine de vigueur et d’expression“ („Virtuosität so voller Kraft und Ausdruck“, RGM 1865, S. 116): „Ce qui nous a particulièrement frappé, c’est la vigueur du coup d’archet entre des mains si délicates („Was uns besonders überrascht hat, ist die Kraft des Bogenstrichs in so zarten Händen“, La Presse orphéonique 6. März 1870). „Mlle de Try a la vigueur, la justesse, le sentiment“ („Mlle. de Try besitzt Kraft, Präzision, Ausdruck, RGM 1865, S. 114). Und obwohl die Rezensenten übereinstimmen in der Beobachtung, ihre Lehrer Servais und Franchomme hätten ihr „ein Gutteil ihres Könnens vermittelt“ („transmis une bonne part de leur talent“, RGM 1865, S. 114), werden geschlechtsspezifische Einschränkungen formuliert: „Elle l’a prouvé […] en jouant la fantaisie de Servais sur la célèbre romance de Lafont: C’est une larme. Quelques traits, quelques coups d’archet ont rappelé le style du maître, dont la jeune virtuose s’approche autant qu’à une femme il est permis („Sie bewies es […] beim Spiel der Fantasie von Servais über die berühmte Romanze von Lafont ‚C’est une larme‘. Einige Eigenschaften, einige Bogenstriche haben an die Spielweise des Meisters erinnert, der sich die junge Virtuosin in dem Maß annähert, wie es einer Dame gestattet istebd.).

Eine Violoncellistin und auch ihre Violine spielenden Kolleginnen sind anscheinend im Musikleben der französischen Metropole immer noch als Sensation wahrgenommen worden. Bezeichnend dafür ist eine Meldung, die 1865 sogar in mehreren deutschen Blättern erschien. „Hier wird jetzt ein weibliches Quintett arrangirt: Mlle. Champais wird Clavier spielen, Frl. Bonley [Maria Boulayund Castellan geigen, Frl. Biot die Bratsche handhaben, und Frl. de Try das Cello. Wenn das nicht zieht, was soll denn noch ziehen!!“ (Bock 1865, S. 64; siehe auch Le Ménestrel 1865, S. 88). Der „Moniteur de la Mode“ nahm sie zum Anlass grundsätzlicher Betrachtungen:

„La musique de chambre est une belle chose… mais il faut convenir avec M. X. Foyrnet, de l’Avenir national, que la mise en scène n’en est pas gaie. Ces quatre ou cinq messieurs, tout de noir habillés, au visage un peu sombre, qui s’asseoient gravement et solennellement devant leur pupître, semblent se préparer à accomplir quelque œuvre austère et même funèbre. La musique est une fête cependant; aux fêtes conviennent le sourire, la grâce, les fleurs, la parure; fleurs et parure, sourire et grâce aussi, sans doute, nous allons avoir tout cela. − Eh! quoi, M. Alard va s’habiller de couleurs tendres? M. Franchomme prendre l’air aimable, et M. Casimir Ney se couronner de roses? Non, nous allons tout simplement avoir un quintette de dames ou plutôt de demoiselles. Violon, Mesdemoiselles Boulay et Castellan; alto, mademoiselle Biot; violoncelle, mademoiselle de Try; piano, mademoiselle Champain.

On comprend bien que nous savons trop ce qu’on doit à des dames et à des artistes pour ne pas souhaiter de grand cœur aux cinq fées du quintette un succès à rendre jaloux tous leurs concurrents. Mais nous ne nous dissimulons pas ce qui, le cas échéant, peut nous arriver. On l’a dit, il n’y a que le premier pas qui coûte: or, si le premier pas réussit, le quintette pourrait bien devenir un orchestre, et voyez-vous d’ici un orchestre feminin exécutant, sous la direction d’une dame exercée au maniement de la baguette, les symphonies de Beethoven et de Mendelssohn?... Voilà évidemment le complément naturel de la musique de l’avenir!“

(„Die Kammermusik ist eine hübsche Sache… aber man muss Herrn X. Foyrnet vom ‚Avenir national‘ zustimmen, dass ihre Inszenierung nicht so lustig ist. Diese vier oder fünf Herren, ganz in Schwarz gekleidet, mit ein bisschen finsteren Mienen, die etwas schwerfällig und feierlich vor ihren Pulten Platz nehmen und den Eindruck erwecken, dass sie eine ernste und geradezu traurige Sache ins Werk setzen. Indessen ist die Musik ein Fest; zu einem Fest passen das Lächeln, die Anmut, Blumen, Schmuck. Blumen und Schmuck, Lächeln und auch Anmut, das alles werden wir ohne Zweifel erleben. − Wie? Was? Monsieur Alard wird sich in zarten Farben kleiden? Monsieur Franchomme wird eine liebenswürdige Miene aufsetzen, und Monsieur Casimir Ney wird sich mit Rosen bekränzen? Nein, wir werden ganz einfach ein Quintett aus Damen oder vielmehr Fräuleins haben: Violinen die Demoiselles Boulay und Castellan, Viola Demoiselle Biot, Violoncello Mademoiselle de Try, Klavier Mademoiselle Champain.

Selbstverständlich wissen wir nur zu gut, was wir den Damen und der Kunst schuldig sind, um den fünf Feen des Quintetts nicht aus vollem Herzen einen Erfolg zu wünschen, der alle ihre Konkurrenten neidisch machen wird. Aber wir verhehlen nicht, was uns im positiven Fall widerfahren kann. Wir haben es gesagt, aller Anfang ist schwer: Nun, wenn der erste Schritt gelingt, könnte das Quintett sehr wohl ein Orchester werden. Und stellen Sie sich ein weibliches Orchester vor, das unter der Leitung einer taktstockschwingenden Dame die Sinfonien von Beethoven und von Mendelssohn spielt?... Bitteschön, das ist offenbar die natürliche Komplettierung der Zukunftsmusik!“, Le Moniteur de la Mode 1865, S. 77).

Zu einem öffentlichen Auftritt des Quintetts ist es indessen wohl nicht gekommen; drei Jahre später, 1868, gründete Josephine Amann-Weinlich jedoch in Wien das erste sogenannte Damenorchester.

Am 4. Febr. 1877 ist der letzte öffentliche Auftritt Eliza de Trys belegt. Eine Meldung der Zeitschrift „Les Spectacles“ aus dem Jahre 1924 ist für ihren weiteren Werdegang aufschlussreich. Der Industrielle und Mäzen Oscar Doutrellon de Try, für seine militärischen und zivilen Verdienste hochdekorierter Bürger von Lille, welcher sich lange Zeit für in Frankreich lebende belgische Künstler eingesetzt habe und nun auf seinem Landsitz in Lambersart bei Lille lebe, stiftete der Meldung zufolge für die Konservatorien Brüssel, Antwerpen, Gent und Lüttich „un prix annuel pour la classe supériore de violoncelle, en souvenir de Mme Doutrelon, née Eliza de Try, violoncelliste, qui fut une brillante élève du grand Servais“ („einen jährlich zu vergebenden Preis für die höhere Violoncello-Klasse, zur Erinnerung an Mme. Doutrelon geb. Eliza de Try, Violoncellistin, die eine brillante Schülerin des großen Servais war“, Les Spectacles 28. Nov. 1924, S. 5).

 

Eliza de Try 1865.

 

LITERATUR

Algemeen Handelsblad [Amsterdam] 4. Dez. 1865, 15. Jan. 1866

All the Year Round 1862, S. 353

Les Beaux Arts. Revue nouvelle 1865, S. 186

Blätter für Musik, Theater und Kunst 1865, S. 60

Bock 1865, S. 64

La Comédie 30. Apr. 1865, 2. Sept. 1866, 22. Dez. 1867, 2. Febr. 1868

Dagblad van Zuidholland en’s Gravenhage 12. Jan. 1866, 4. Nov. 1865, 7. Jan. 1866

Fremden-Blatt [Wien] 19. Febr. 1865

Journal de Musique et d’Enseignement Populaire 6. März 1870

Le Ménestrel 1862, S. 134, 167, 175, 206; 1865, S. 71, 88, 103, 127, 144, 191; 1867, S. 31, 103, 135; 1868, S. 46; 1870, S. 111

Le Monde dramatique 24. Apr. 1862, S. 4

Le Moniteur de la Mode. Journal du grand Monde 1865, S. 77

MusW 1865, S. 84, 309

The Musical Standard 1869 I, S. 307

Die Neue Zeit. Olmüzer Zeitung 25. Febr. 1865

New York Herald 22., 29. Okt. 1871

Nieuwe Rotterdamsche Courant 11. Jan. 1866, 14. Jan. 1866

NZfM 1866, S. 110, 206; 1867, S. 13, 126; 1868, S. 58, 65

The Orchestra 1865, S. 24

La Presse orphéonique. Journal de Musique et d’Enseignement Populaire 6. März 1870

Provinciale Overijsselsche en Zwolsche Courant 5. Febr. 1866

Recensionen und Mittheilungen über Theater und Musik 1865, S. 175

RGM 1862, S. 142, 398f; 1865, S. 62, 86, 114ff., 125; 1866, S. 54, 86, 114; 1867, S. 227; 1869, S. 150; 1873, S. 166f.

Signale 1862, S. 282; 1865, S. 323; 1866, S. 905; 1869, S. 652

Les Spectacles. Organe d’informations théatrales, musicales, cinématographiques 28. Nov. 1924, S. 5

L’Univers musical 1862, S. 390

Edouard Georges Jacques Gregoir, Littérature musicale. Documents historiques relatifs à l’art musical et aux artistes-musiciens, 4 Bde., Brüssel usw. 1874−1875, Bd. 2, 1874.

Ovide Musin, My Memories. A Half Century of Adventures and Experiences and Globe Travel, New York 1920.

Edmund S.[ebastian] J.[oseph] van der Straeten, History of the Violoncello, the Viol da Gamba, their Precursors and Collateral Instruments, 2 Bde., Bd. 2, London 1915, Repr. in einem Bd. London 2008.

Freia Hoffmann u. Volker Timmermann (Hrsg.), Quellentexte zur Geschichte der Instrumentalistin im 19. Jahrhundert, Hildesheim [u. a.] 2013.

Peter François, The Belgian School of Cello Playing. De Belgische Celloschool. L'École belge du Violoncelle, Halle 2017.

http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b7722412b.item.r=eliza+de+try.f, Zugriff am 28. Aug. 2010.

 

Bildnachweis

http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b7722412b.item.r=eliza+de+try.f, Zugriff am 28. Aug. 2010.

 

Freia Hoffmann

 

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