Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

Schwabe, Betty, verh. Francken, Schwabe-Francken, Francken-Schwabe

* 27. Febr. 1875 in Aachen, † nach dem 12. Juli 1943 in Sobibór (bei Wolodawa), Violinistin und Violinlehrerin. Ihre Eltern waren Fanny Schwabe geb. Prenslau (1853−1915) und der Kaufmann Heino Schwabe (?−1915). Ihre Schwester Alice (1876−?) wurde Pianistin und Klavierlehrerin. Ein Bruder starb wenige Monate nach der Geburt. Um 1885 verließen die Eltern und Geschwister Aachen in Richtung Berlin. 

Ab ihrem dritten Lebensjahr bekam Betty Schwabe Klavierstunden. Ersten Violinunterricht erhielt sie vermutlich seit 1883 beim Konzertmeister Max Winkelhaus (?–1890). Anschließend wurde sie zunächst privat von Gustav Holländer (1855–1915) und ab 1887 im Rahmen des Studiums am Kölner Konservatorium ausgebildet. Von dem australischen Violinisten Johann Secundus (John) Kruse (1859–1927) wurde sie auf das Studium an der Königlichen Hochschule für Musik in Berlin vorbereitet. Von Okt. 1888 bis Ostern 1893 studierte sie dort zunächst bei Johann Secundus Kruse, seit 1891 zudem bei Joseph Joachim (1831–1907). Im letzten Schuljahr wurde sie ausschließlich von Joseph Joachim unterrichtet. Im Jahr 1891 erhielt sie das „Felix Mendelssohn Bartholdy-Staatsstipendium für ausübende Tonkünstler“. Für den Vortrag des Violinkonzerts e-Moll op. 64 von Mendelssohn und eines E-Dur-Präludiums von Joh. Seb. Bach fand sie eine lobende Erwähnung in den Prüfungsprotokollen. Das Studium in Berlin schloss sie nach Aktenlage nicht ab. Im Jahr 1896 spielte sie in Brüssel Eugène Ysaÿe vor, beteuert jedoch in einem Brief an Joseph Joachim vom 27. Juni 1896: Ich habe nur mal Herrn Ysaye vorgespielt und er fand großes Lob für mich; ich habe noch ihn [sic] einige Male gehört, ohne mich für seine Vortragsweise erwärmen zu können. Eine Gedanke, bei ihm Unterricht zu nehmen, war mir vorher nicht gekommen und nachher um so weniger. Mein einziges Bestreben ist, mich auf den Bahnen, die Sie mich geführt zu vervollkommnen“ (SM 12 Briefnachlass Joseph Joachim). Von Herbst 1892 bis mindestens 1893 wurde sie als Solistin von der Konzertdirektion Herrmann Wolff vertreten. Um 1896 arbeitete sie mit der Konzertdirektion Cavour zusammen.

 

Betty Schwabe 1898. Photographie von Albert Meyer.

 

Am 18. Febr. 1892 debütierte sie mit dem Berliner Philharmonischen Orchester in der Singakademie mit Joachims Violinkonzert G-Dur, Ballade und Polonaise op. 38 von Henri Vieuxtemps und Mendelssohns Violinkonzert e-Moll op. 64. In den folgenden Jahren trat sie ebenfalls mit dem Berliner Philharmonischen Orchester auf: Unter Leitung Joseph Joachims trug sie im Jahr 1894 Beethovens Violinkonzert D-Dur op. 61, Variationen von Joseph Joachim und eine Polonaise von Wieniawski vor. Im folgenden Jahr kamen Bruchs Konzert in g-Moll, das Violinkonzert D-Dur op. 77 von Brahms und die Romanze aus Joachims Ungarischem Konzert zur Aufführung. Auch im Jahr 1897 sind zwei Auftritte mit dem Berliner Philharmonischen Orchester belegt, diesmal unter Leitung von Arthur Nikisch: Im Okt. trug sie in der Singakademie das Violinkonzert D-Dur op. 61 von Beethoven, eine Chaconne von Bach und Paganinis Konzert Nr. 1 D-Dur vor. In der Zeitschrift „Signale für die musikalische Welt“ heißt es dazu: „Der Schule Joachim’s macht sie mit ihrer gründlich durchgearbeiteten, hervorragend entwickelten Technik, ihrem saftigen, edlen Ton, ihrer stilvollen Auffassung und künstlerisch besonnenen Vortragsweise alle Ehre. Wie tapfer und in jeder Hinsicht glücklich sie sich heute ihres anspruchsvollen Pensums […] entledigte, das war für Jedermann ein Vergnügen zu hören. Aus vollster Ueberzeugung können wir uns somit auch diesmal dem Urtheil des Publicums anschließen, welches der jungen Dame Beifall in Hülle und Fülle nach jedem Vortrag spendete“ (Signale 1897, S. 790). Das folgende 5. Philharmonische Konzert fand im Dez. 1897 statt und widmete sich ausschließlich Werken Beethovens. Betty Schwabe brachte hier abermals das Violinkonzert D-Dur op. 61 von Beethoven zur Aufführung. Der häufig geäußerten Ansicht entsprechend, dass Instrumentalistinnen generell nicht in der Lage seien, anspruchsvolle Literatur zu interpretieren, schreibt der Rezensent der „Neuen Zeitschrift für Musik“: „Es war ja eine größere Vertiefung in den musikalischen Gehalt zu bemerken und auch technisch war ihre Leistung eine vollendetere, abgerundetere. Trotzdem muß ich hinzufügen, daß der echt weibliche, sentimentale Zug, der ihr eigen ist, den ich sonst einer Künstlerin als einen Vorzug anrechnen würde, mich gerade beim Beethoven’schen Concerte störte, denn dieses Werk erfordert eine männliche Auffassung, eine männliche Hand“ (NZfM 1897, S. 565).

Nach derzeitigem Forschungsstand spielte Betty Schwabe nur selten in kammermusikalischen Besetzungen: Unter anderem interpretierte sie 1898 im Bechsteinsaal in Berlin mit der Pianistin Clotilde Kleeberg die Kreuzersonate und die Frühlingssonate von Beethoven.

Mehrmals konzertierte sie in Berlin  (1892, 1894–1898), Hamburg (1892–1894, 1898), Frankfurt a. M. (1892–1894) und Aachen (1892, 1896, 1923, 1925, 1927). Weitere Konzerte lassen sich für Straßburg (1893), Neubrandenburg (1893), Köthen (1893), Zerbst (1893), Bremen (1894), Leipzig (1894), München (1895), Hannover (1895), Reichenberg (1895), Breslau (1897), Annaberg (1897), Chemnitz (1897), Petersburg (1897) und Pforzheim (1900) nachweisen. Laut Kohut spielte sie zudem in Russland, Holland, der Schweiz und Belgien und wurde vom deutschen Kaiser und der Kaiserin „sowie fast sämmtliche[n] deutschen Fürstlichkeiten […] wiederholt in hervorragender Weise“ (Kohut, S. 403) ausgezeichnet. In dem genannten Brief an Joseph Joachim erwähnt Betty Schwabe, dass sie sich „seit 8 Tagen […] mit Mama in Hamburg wegen eines Engagements in Amerika“ (SM 12 Briefnachlass Joseph Joachim) aufhalte. Nach jetzigem Forschungsstand haben in Übersee jedoch keine Auftritte der Violinistin stattgefunden.

Im Sept. 1898 heiratete Betty Schwabe Alfred Francken (1866−1928) und stellte anschließend ihre Konzerttätigkeit weitgehend ein. Das Ehepaar lebte in Aachen, wo auch die Kinder zur Welt kamen: Die Tochter Ellen Francken (* 30. Sept. 1899), die spätere Pianistin und Klavierlehrerin Margot Francken, verh. Wilson (* 2. Aug. 1901) und Joachim Phillip Francken (* 7. Sept. 1906, † 1995). Die Familie wohnte in der Alphonsstrasse 34, wo Betty Schwabes Schwester Alice Klavierunterricht erteilte. Die Kinder wurden anscheinend später zu den Großeltern nach Berlin gegeben. Im Jahr 1930 lebten Ellen, Margot und Joachim Francken in Berlin in der Paulsbornerstraße 12, um 1938 hielten sie sich in Kopenhagen auf.

Nur vereinzelt lassen sich nach der Heirat noch Auftritte nachweisen: 1923 trug Betty Schwabe in Aachen (?) zusammen mit August Junker, Erich Orthmann und Willy Hahn Klavierquartette von Brahms vor. 1924 wirkte sie beim Bachfest in Aachen als Solistin mit. Im Jahr 1925 führte sie, ebenfalls in Aachen, zusammen mit ihrer Schwester Alice Schwabe eine Violinsonate von Ildebrando Pizzetti auf. An einem 1930 vom Pianisten Paul Schnitzler in Aachen gegründeten privaten Konservatorium lehrte Betty Schwabe im Fach Violine. Vermutlich verlor sie mit der Regierungsübernahme der Nationalsozialisten 1933 aufgrund ihrer jüdischen Herkunft die Anstellung am Konservatorium. Offenbar kehrte sie im März 1934 von einer Reise aus Paris zurück nach Aachen, und begab sich dort in das jüdische Altenheim Kalverbenden. Die am 19. Okt. 1934 erfolgte Anmeldung bei der Reichsmusikkammer verdeutlicht, dass sie weiterhin versuchte, als Musikerin tätig zu sein. Am 12. März 1936 wurde ihr jedoch von der Reichsmusikkammer die Arbeitserlaubnis vollständig entzogen. Am 5. Mai 1937 zog Betty Schwabe „verwitwet und vollständig verarmt“ (Frankenbach 2009) nach Hamburg. Unterstützung erhielt sie dort von der Aachener Pianistin Maria Syllm (Syllem) geb. Feibes (1891−1980), mit der sie in dieser Zeit privat musizierte. Seit 1938 sind Auftritte in Amsterdam nachgewiesen, sodass eine Flucht in die Niederlande um 1937/38 vermutet werden kann. Im Juni 1938 trug sie in Amsterdam im Rahmen eines Konzerts der „Joodsche Invalide“ zusammen mit der Pianistin Coba Swaan einige Stücke vor, und am 15. März 1939 spielte sie zusammen mit der Pianistin Betsy von Praag im Apollo-Pavillon. Am 29. Nov. desselben Jahres trat sie bei einem weiteren Konzert zu Gunsten jüdischer Flüchtlinge auf.

Nach ihrer Verhaftung am 20. Juni 1943 in den Niederlanden wurde sie im Sammellager Westerbork inhaftiert und am 13. Juli 1943 ins Vernichtungslager Sobibor deportiert. Die seit den 1920er Jahren in Amsterdam lebende Cellistin Hedda von Kaulbach, Tocher von Frida von Kaulbach, schreibt in einem Brief vom 20. Juli 1943: „Zu unserem Schrecken ist die liebe Betty bei einem Transport aus Westerbork nach Polen am 13. Juli mitgenommen worden. Ganz unbegreiflicherweise ist ihr Gesuch für Theresienstadt abgewiesen worden“ (Brief vom 20. Juli 1943/Transkription Sebastian Elverfeldt).

Am 16. Juli, dem Tag der Ankunft im Vernichtungslager, wurde Betty Schwabe für tot erklärt. In einem Gedenkblatt der Gedenkstätte Yad Vashem ist ihr zuletzt ausgeübter Beruf mit Hausfrau angegeben.

Betty Schwabe spielte unter anderem auf einer Violine von Antonio Stradivari (Baujahr 1697), die sie um 1892 erwarb. Der Wert wird in den „Strassburger neuesten Nachrichten“ vom 9. Nov. 1893 mit 28.000 Mark angegeben. Auch eine weitere Violine von Antonio Stradivari (Baujahr 1722) soll zeitweise in ihrem Besitz gewesen sein. Zuletzt spielte sie eine Guarneri-Geige, von der sie sich erst im Konzentrationslager Westerbork trennen ließ (siehe Fladhammer/Wenzel).

Für Hinweise zur Genealogie bedanken wir uns bei Sebastian Elverfeldt.

 

LITERATUR

Brief an Joseph Joachim vom 27. Juni 1896, Staatliches Institut für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz zu Berlin, Signatur: SM 12 Briefnachlass Joseph Joachim, Doc. orig. Betty Schwabe 1

Algemeen Handelsblad [Amsterdam] 1938, 16. Juni; 1939, 8. März

Bock 1892, S. 56, 192f.; 1893, S. 256f., 577; 1894, S. 487f.

Daily News [London] 20. Febr. 1892

Deutsche Kunst- und Musik-Zeitung 1893, S. 167

The Era [London] 27. Febr 1892

FritzschMW 1892, S. 113, 127; 1897, S. 39, 47, 514

Monthly Musical Record 1895, S. 282; 1898, S. 32

Musical News 1892 I, S. 254

Musical Standard 1894 I, S. 254

Die Musik 1901/02 I, S. 677; 1923/24 II, S. 849; 1925/26 II, S. 547

Nieuw Israelietisch Weekblad 24. Nov. 1939

NMZ 1895, S. 32

NZfM 1892, S. 470; 1893, S. 68, 166, 202, 456, 508; 1894, S. 180; 1895, S. 514; 1897, S. 565

Österreichische Musik- und Theaterzeitung 1894, H. 7, S. 14

Prager Abendblatt 26. Apr. 1894

Prager Tagblatt 15. Apr. 1894

Die Redenden Künste 1897, S. 430

Signale 1892, S. 251, 392, 420, 920, 1036; 1893, S. 7, 186, 489, 820f.; 1894, S. 21, 72, 824, 1028, 1093; 1895, S. 200, 213, 490, 806, 1048; 1896, S. 294, 669, 683, 939; 1897, S. 9, 50, 790, 1030; 1898, S. 9, 346, 420; 1900, S. 1033; 1918,  S. 600

Straßburger Neueste Nachrichten 9. Nov. 1893

Violin Times 1894, S. 51; 1897, S. 23

Windsor Magazine. An Illustrated Monthly for Men and Women 1897, S. 744

Friedrich Frick, Kleines biographisches Lexikon der Violinisten. Vom Anfang des Violinspiels bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, Norderstedt 2009. (Art. Kruse, Johann Sekundus)

Anton Bing, Rückblicke auf die Geschichte des Frankfurter Stadttheaters. Von dessen Selbstständigkeit (1792) bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M. 1892.

Anna Morsch, Deutschlands Tonkünstlerinnen. Biographische Skizzen aus der Gegenwart, Berlin 1893.

Adolph Kohut, Berühmte israelitische Männer und Frauen in der Kulturgeschichte der Menschheit. Lebens- und Charakterbilder aus Vergangenheit und Gegenwart, 2 Bde., Bd. 2, Leipzig 1901.

Aloys Stolz u. August Allgaier, Geschichte der Stadt Pforzheim, Pforzheim 1901.

Wilhelm Altmann, Chronik des Berliner Philharmonischen Orchesters (1882–1901). Zugleich ein Beitrag zur Beurteilung Hans von Bülows, Berlin [u. a.] 1902.

Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933–1945, Koblenz 1986.

Sophie Fetthauer, „Betty Francken“, in: Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit, hrsg.  von Claudia Maurer Zenck [u. a.], Universität Hamburg, seit 2009, http://www.lexm.uni-hamburg.de, Zugriff am 18. Juli 2012.

Silke Wenzel, „Betty Schwabe“, in: MUGI. Musik und Gender im Internet, http://mugi.hfmt-hamburg.de/A_lexartikel/lexartikel.php?id=schw1876, Zugriff am 29. Juni 2012.

Bettina Frankenbach, Maria Syllm, in: Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit, hrsg. von Claudia Maurer Zenck [u. a.], Universität Hamburg, seit 2009, http://www.lexm.uni-hamburg.de, Zugriff am 29. Juni 2012.

Sophie Fetthauer, Margot Nilsson, in: Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit, hrsg. von Claudia Maurer Zenck [u. a.], Universität Hamburg, seit 2009, http://www.lexm.uni-hamburg.de, Zugriff am 29. Juni 2012.

„The Central Database of Shoah Victims’ Names“ der Gedenkstätte Yad Vashem, 2012, http://www.yadvashem.org, Zugriff am 29. Juni 2012.

Cozio: Identification and pricing information about fine stringed instruments, 2012, http://www.cozio.com/instrument.aspx?id=3064, http://www.cozio.com/instrument.aspx?id=527, Zugriff am 29. Juni 2012.

Christa Fladhammer u. Silke Wenzel, Art. „Betty Francken“, www.stolpersteine-hamburg.de, Zugriff am 25. Sept. 2015.

 

Bildnachweis

Photographie von Albert Meyer 1898. Stadtarchiv Zürich, VII.151. Tonhalle-Gesellschaft Zürich.

 

Jannis Wichmann

 

 

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