Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

Jaffé, Sophie (Sophia)

* 26. Febr. 1872 (oder 1873) in Odessa, Sterbedaten unbekannt, Violinistin. Über das Geburtsjahr Sophie Jaffés herrscht in den Quellen Uneinigkeit. Die Angabe 1872 bei Pierre in den Listen der AbsolventInnen und PreisträgerInnen des Pariser Konservatoriums scheint am zuverlässigsten.

Die jüdische Violinistin war zunächst Schülerin von Leopold von Auer (1845–1930), der seit 1868 am St. Petersburger Konservatorium unterrichtete, bevor sie an das Pariser Konservatorium wechselte. Die Zeitschrift „Dur und Moll“ berichtet, dass dies auf Anraten Pablo de Sarasates geschah. Hier studierte Sophie Jaffé in den Violinklassen von Lambert-Joseph Massart (1811–1892) und Charles-Eugène Sauzay (1809–1901). Auch Henri Berthelier (1856–1915) wird als Lehrer genannt. Im Jahr 1892 wurde sie beim jährlichen Wettbewerb mit dem 1. Preis ausgezeichnet, und die Zeitschrift „Le Ménestrel“ (1892, S. 245) bescheinigt ihr unbestreitbare künstlerische Veranlangung. Gelobt werden die Exaktheit ihres Spiels, die Eleganz der Bogenführung und die solide Fingertechnik. „LEurope artiste“ macht allerdings die Einschränkung, ihr Spiel sei „correcte et ennuyeuse“ („korrekt und langweilig“, LEurope artiste 1892, S. 252).

Ungeachtet dieser Einschätzung begann die Geigerin für kurze Zeit einen Siegeszug durch Europa. Sie trat in den kommenden Jahren nicht nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland, Russland, der Schweiz und in den Niederlanden auf. Auf ihren Programmen erschienen immer wieder das 5. Violinkonzert von Vieuxtemps (dessen 1. Satz sie schon beim Pariser Wettbewerb gespielt hatte), Le Souvenir de Moscou von Wieniawski, die Teufelstrillersonate von Tartini sowie weitere Virtuosenliteratur.

Mehrfach wird Sophie Jaffé als ‚weiblicher Sarasate‘ bezeichnet. In Lausanne beispielsweise musizierte sie mit einem selten zu hörenden Volumen, „à plus forte raison surprend-il chez une femme“ („ganz sicher überrascht es bei einer Frau“, Gazette de Lausanne 3. Dez. 1898), mit Feuer und Mut. Die „Signale für die musikalische Welt“ attestieren ihr „alles, was ein Virtuose braucht, um sein Publicum zu captiriren […]: auf der einen Seite die blendende, außerordentlich behende und saubere Technik, auf der andern ein Vortrag voll Temperament, Geist und Grazie“ (Signale 1897, S. 15). Für den Violinisten Carl Flesch, der die junge Sophie Jaffé bereits am Konservatorium kennengelernt hatte, war sie „although not the most musical of violinists, the greatest woman virtuoso of her time“ (Flesch, S. 69).

Flesch ist es auch, der die einzigen derzeit auffindbaren Informationen zum weiteren Lebensweg Sophie Jaffés liefert. Er berichtet, dass nach den letzten belegten Konzertauftritten, die aus dem Jahr 1899 stammen, „she did not exploit her success, very quickly disappeared, married, and seemed to have vanished for good“ (Flesch, S. 69). Die in den „Signalen“ veröffentlichten Rückblicke auf die Jahre 1902 und 1903 erwähnen Sophie Jaffé weiterhin unter den wichtigen Geigenvirtuosinnen der Zeit, ohne dass konkrete Auftritte auszumachen wären. Dem „Blatt der Hausfrau" zufolge lebte sie 1902 in Odessa. Flesch traf die Geigerin noch einmal während des 1. Weltkrieges nach einem seiner Konzerte in Zürich, wohin Jaffé, die sich zuvor in Russland aufgehalten hatte, geflohen war. Danach verliert sich ihre Spur.

 

Sophie Jaffé, Brustbild. Lithographie eines unbekannten Künstlers.

 

LITERATUR

Algemeen Handelsblad [Amsterdam] 1898, 14., 15., 17., 18., 20., 21., 24., 25., 27., 28. Sept.; 2., 4., 5., 6. Okt., 6., 7., 8., 9. Dez.

Allgemeine Zeitung [München] 1897, 2. Febr., 10. Okt.; 1898, 15. Nov.

The Baton 1930, Nov., S. 5

Blatt der Hausfrau 1901/02, S. 1196f.

Dur und Moll 1898/99, S. 194

The Encyclopedia Americana 1918, S. 82

L'Europe artiste 1892, S. 31; 1899, S.78

FritschMW 1897, S. 61, 64, 142, 185, 231, 606f.; 1899, S. 70

Gazette de Lausanne 3. Dez. 1898

Journal de Genève 1897, 12. Sept.; 1898, 3., 9. Dez.

Konservative Monatsschrift für Politik, Literatur und Kunst 1897, S. 71

Le Ménestrel 1892, S. 245, 252; 1893, S. 407; 1896, S. 38, 47, 245; 1920, S. 355

Le Monde artiste 1899, S. 78

Music. A Monthly Magazine 1896/97, S. 618f.

Neue musikalische Presse. Zeitschrift für Musik, Theater, Kunst, Sänger- und Vereinswesen Nov. 1896, S. 5

NZfM 1896, S. 559, 570; 1897, S. 40, 160, 234; 1897, S. 518; 1898, S. 543; 1899, S. 68, 80

Het Nieuws van den Dag. Kleine Courant [Amsterdam] 6. Dez. 1898

Die Redenden Künste (Leipziger Konzertsaal) unter spezieller Berücksichtigung des Leipziger Musiklebens 1896/97, S. 501

Revue musicale Saint-Cécile 6. Jan.[nbsp]1899

Signale 1896, S. 999; 1897, S. 9, 15, 98, 168, 341, 451, 492; 1898, S. 841, 1028, 1051; 1899, S. 9, 52, 201, 306, 1033; 1902, S. 130; 1903, S. 154; 1904, S. 122

La Vedette 1893, 9. Sept., 25. Nov.

Zeitschrift für Musik 1896, S. 559

Baker 3

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Peter Muck, Einhundert Jahre Berliner Philharmonisches Orchester, 3 Bde., Bd. 3: Die Mitglieder des Orchesters. Die Programme. Die Konzertreisen. Erst- und Uraufführungen, Tutzing 1982.

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http://www.familysearch.org/Eng/Search/frameset_search.asp, Zugriff am 7. Juni 2012.

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Bildnachweis

Dur und Moll 1898/99, S. 194.

 

Claudia Schweitzer

 

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