Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

Erdeli, Xenia Alexandrowna

Transliteration: Ėrdeli, Ksenija Aleksandrovna

* 8. (20.) Febr. 1878 in Miroljubowka oder Jelizawetgrad (heute Kirowograd) in der Ukraine, † 27. Mai 1971 in Moskau, russisch-sowjetische Harfenistin und Harfenlehrerin.

Xenia Erdeli, in der Ukraine als Tochter russischer Eltern geboren, erhielt ihre Ausbildung bis 1895 am Petersburger Smolni-Institut für adelige junge Mädchen und studierte zwischen 1891 und 1899 bei der stilprägenden russischen Harfenistin Catherine Kühne. Anschließend begann sie ihre rege Konzerttätigkeit, war 1899–1907 Mitglied des Moskauer Bolschoi-Orchesters und 1918–1938 Solo-Harfenistin derselben Institution. Außerdem spielte sie im Orchester der Kaiserlich-Russischen Musikgesellschaft, dem Orchester der Philharmonischen Gesellschaft und in anderen Ensembles. Sie unterrichtete an diversen Lehranstalten, unter anderem ab 1911 am Petersburger Smolni-Institut, 1913–1917 am Petersburger Konservatorium, dem Petersburger Katharinen-Institut und der Petersburger Philharmonischen Gesellschaft; nach der Oktoberrevolution lehrte sie 1944–1954 an der Moskauer Gnessin-Musikakademie und 1905–1971 (mit Unterbrechungen) am Moskauer Konservatorium, wo sie ab 1939 eine Professur für Harfe innehatte. 1966 wurde ihr der Titel „Volkskünstlerin der UdSSR“ verliehen.

Zu Erdelis Schülerinnen gehörten Maria Alexandrowna Kortschinskaja (1895–1979), Wera Georgijewna Dulowa (1910–2000), Milda Agazarian und vor allem ihre Nichte, Olga Erdeli (*1927), 1949 Absolventin und später Professorin des Moskauer Konservatoriums. Deren Tochter, Xenia Erdeli, erhielt nicht nur den Namen ihrer berühmten Großtante, sondern wurde ebenfalls eine angesehene Harfenistin.

Beinahe wäre Erdelis Karriere zu Ende gewesen, noch bevor sie richtig begonnen hatte: „When […] Ksenia Erdeli, was threatened with her mother’s insistence on an unwanted marriage and had to have sponsorship to continue her career, it was Walter-Kiune [d. i. Catherine Kühne], her beloved teacher, not relatives, who came to her rescue“ (Govea, S. 292). „Ekaterina Adol’fovna [d. i. Catherine Kühne] brachte mich bei sich unter, betreute mich mütterlich, und unter ihrer Leitung bekam ich zwei Jahre lang meine Musikausbildung und verbesserte mich im Harfenspiel. Ihrer freundlichen Hilfe und Anteilnahme verdanke ich sehr vieles, wenn nicht alles, was ich in der Kunst des Harfenspiels erreichen konnte“ (Ėrdeli 1967, S. 37, zit. nach Lomtev, S. 118). In Folge der menschlichen und künstlerischen Unterstützung ihrer Mentorin wurde Erdeli als Lehrerin und Interpretin zur führenden Gestalt der sowjetrussischen Harfenschule. Nachdem 1913 bereits der französische Komponist Charles-Maria Widor einen Choral mit Variationen für Harfe und Orchester für sie komponiert hatte, bemühte sie sich erfolgreich, insbesondere das russisch-sowjetische Repertoire für ihr Instrument zu erweitern. Komponisten wie César Cui, Alexander Gretschaninow, Michail Ippolitow-Iwanow, Reinhold Glière und Anatoli Kos-Anatolski komponierten auf ihre Initiative hin Werke für Harfe, deren Uraufführungsinterpretin und oft auch Widmungsträgerin Erdeli war. 1932 brachte sie das erste Harfenkonzert eines sowjetischen Künstlers, Nikolai Parfenow (1893–1938), zur Uraufführung, und als Reinhold Glière 1938 sein Harfen-Konzert op. 74 komponierte, bat er Erdeli um Unterstützung. Sie half ihm in einem derart umfangreichen Maße, dass er vor der Veröffentlichung anfragte, ob er das Werk unter ihrer beider Namen publizieren dürfe. Erdeli lehnte dies ab; sie wurde auf ihren Wunsch hin lediglich als „editor“ genannt.

Ein weiterer Schwerpunkt ihrer Konzertprogramme waren eigene Bearbeitungen von Kompositionen Peter Tschaikowskys„Erdeli’s playing had a rare beauty of tone, her technique was brilliant and refined. Her compositions and transcriptions of Russian and foreign works were a valuable contribution to harp literature“ (Grove 2001). Boris Dobrochotow rühmt ihre Elegie mit typisch sowjetischem Pathos und bezeichnet das Werk als Klassiker der sowjetischen Harfenliteratur (vgl. http://www.thefirebirdsfeather.co.uk/russiancdnotes_all.html#ErdelyiPrel_pn, Zugriff am 17. Febr. 2010).

Erdeli engagierte sich weit über die eigene Konzerttätigkeit, das Komponieren, Arrangieren, Herausgeben und Initiieren von Harfenliteratur hinaus für die Entwicklung der sowjetischen Harfentradition. Sie organisierte ein Ensemble für 20 Harfen, gründete das weltweit erste Harfenquartett mit klassischem Repertoire, und ihr Instrument diente als Vorbild für die Herstellung der ersten sowjetischen Pedalharfen, die ab 1948 in der der Lunatscharski-Instrumentenfabrik (heute: Selena-Harfen) gefertigt wurden. Die Serienproduktion bedeutete, dass sowjetische HarfenistInnen fortan nicht mehr auf alte, vorwiegend französische Harfen schwerpunktmäßig der Firma Érard angewiesen waren, sondern nun auch hochwertige moderne Instrumente im eigenen Land erwerben konnten, so dass das große Interesse am Harfenspiel nicht mehr daran scheitern musste, dass der Zugang zu bezahlbaren und funktionstüchtigen Instrumenten fehlte.

 

WERKE FÜR HARFE

insgesamt 40 Etüden für Harfe (Nr. 1-10: Moskau 1961); Drei Präludien für Harfe, Hamburg o. J.; Elegie zum Gedenken Glinkas für Harfe Solo, Hamburg o. J.; Ukraina [Ukraine], Fantasie; 10 Stücke im Russischen Volksliedstil

 

BEARBEITUNGEN

Bearbeitungen russischer und westeuropäischer Musik: 12 Solostücke für Harfe von Peter Tschaikowsky, arrangiert von Xenia Erdeli; Catherine Walter-Kühne, Fantaisie sur un theme de l’opéra Eugène Onegin, arrangiert von Xenia Erdeli; Michail Glinka: Žavoronok [Die Lerche], Solo for Pedalharfe, arrangiert von Milij Balakirev und für Harfe transkribiert von Xenia Erdeli; Russkaja Muzyka [Russische Musik], arrangiert von Xenia Erdeli, Moskau 1967

 

LITERATUR

Ksenia Aleksandrovna Ėrdeli, „Zametki ob arfe“ [Anmerkungen zur Harfe], in: Sovetskaja Muzyka [Sowjetische Musik] 23 (1959), H. 5, S. 128–129.

Ksenia Aleksandrovna Ėrdeli, „Moja žizn v muzyke“ [Mein Leben in der Musik], in: Sovetskaja Muzyka [Sowjetische Musik] 26 (1962), H. 4, S. 74–78.

Ksenia Aleksandrovna Ėrdeli, Arfa v moej Žhizni. Memuary [Die Harfe in meinem Leben. Memoiren], hrsg. von Boris Vasilevič Dobrochotov, Moskau 1967.

Cohen, MusEnc, Govea, New Grove 2001

Gösta Morin [u.a.], Sohlmans musiklexikon, 5 Bde.,  Bd. 5, 2Stockholm 1979.

Dmitry Feofanov u. Allan Benedict Ho (Hrsg.), A biographical dictionary of Russian and Soviet composers, New York 1989.

V. Poltareva, Tvorčeskij put’ K. A. Ėrdeli: Iz istorii sovetskoj školy igry na arfe [Der Schaffensweg X. A. Erdelis: Aus der Geschichte der sowjetischen Schule des Harfenspiels], L’viv [Lemberg] 1959.

V. Borisovskij, „Talant i ėnergija“ [Talent und Energie; zum 80. Geburtstag], in: Sovetskaja muzyka [Sowjetische Musik] 4 (1962), S. 73f.

Denis Lomtev, Deutsche Musiker in Russland. Zur Geschichte der Entstehung der russischen Konservatorien, Sinzig 2002.

Marina Podguzova, „,... gospoža Ėrdeli ne ustupila nastojaniem publiki i ne igrala na bis‘. K 130-letiju so dnja roženija vydajuščejsja arfistki“ [„... Frau Erdeli gab dem Drängen des Publikums nicht nach und gab keine Zugabe“. Zum 130. Geburtstag der herausragenden Harfenistin], in: Muzykovedenie [Musikwissenschaft] 3 (2009), S. 36–40.

 

Kadja Grönke

 

© 2010 Freia Hoffmann