Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

Fichtner, Fichtner-Erdmannsdörfer, Erdmannsdörfer, von Erdmannsdörfer-Fichtner, geb. Oprawill, Pauline

* 28. Juni 1847 in Wien, † 24. Sept. 1916 in München, Pianistin, Klavierlehrerin und Komponistin. Als Pauline Oprawill geboren, wurde sie nach dem frühen Tod ihrer Mutter von einer Tante und deren Mann, einem wohlhabenden Fabrikanten namens Fichtner, adoptiert. Nach Anfangsunterricht bei Matthias Weitz absolvierte sie ein Studium an der „Pianoforte-Schule“ von Eduard Pirkhert (1817–1881) und trat in dessen Schülerkonzerten bereits Anfang der 1860er Jahre auf. Die Ausbildung wurde ergänzt durch Gesangsstunden bei der Sopranistin Marie Wilt (1833–1891) und Kompositionsunterricht beim Hofopernkapellmeister Otto Dessoff (1835–1892). Pauline Fichtners erstes eigenes Konzert fand am 27. Nov. 1864 im Saal der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien statt. „Daß das Fräulein eine tüchtige Schule durchgemacht, ging zunächst schon aus seinem Programme hervor, daß [sic] von Bach an die besten Namen der Clavierliteratur umfaßte, wie Beethoven, Schumann, Schubert. Die Ausbildung der Technik ist zu einer ziemlichen Stufe gediehen und wird mit fortschreitender Entwicklung der physischen Kraft (das Fräulein dürfte kaum mehr als sechzehn Sommer zählen [recte 17]) auch nach Seite des Anschlages das an Deutlichkeit noch Fehlende zur Ergänzung gelangen“ (Wiener Zeitung 29. Nov. 1864). Auch „Das Vaterland“ fand es „schade, daß das Fräulein bei ihrem zarten, hingehauchten Spiele der Pianos, den gegensätzlichen, Kraft erfordernden Fortes nicht ebenso gerecht zu werden“ (Das Vaterland 29. Nov. 1864) vermochte. Beim Vortrag einer Klavier-Violin-Sonate von Joachim Raff im Febr. 1867 vermisste ein anderer Wiener Kritiker ebenfalls noch die für manche Stellen notwendige „Männerfaust“ (Blätter für Musik, Theater und Kunst 19. Febr. 1867). Erst 1871 wurde Pauline Fichtner das Resultat vorausgegangenen Kraft-Trainings bescheinigt: „Sie hat etwas Männliches in ihrem Spiele, das sie sehr wohl kleidet“ (Wiener Zeitung 13. Jan. 1871). Gleichwohl konnte sie sich im Wiener Musikleben bereits frühzeitig etablieren, indem sie im Dez. 1865 bei einem Quartettabend von Ferdinand Laub für die erkrankte Auguste Kolár einsprang und von März 1866 an mehrfach mit Joseph Hellmesberger auftrat, u. a. auch in Brünn (heute Brno) und Prag. Am 27. Febr. 1867 spielte sie mit dem Wiener Orchesterverein Chopins Klavierkonzert Nr. 1 e-Moll op. 11 „mit meisterlicher Technik und edler Auffassung“ (Bock 1867, S. 77).

Konzertreisen führten Pauline Fichtner Anfang 1867 nach Odessa, Petersburg, Warschau und Czernowitz, im Mai 1867 nach Graz und in der ersten Jahreshälfte 1869 nach Pest, Prag und Gmunden. In Wien zählte sie nun „zu den geschätztesten Pianistinnen“ (Wiener Zeitung 8. März 1870), galt als die „beste, welche Wien heute aufzuweisen hat“ (Blätter für Musik, Theater und Kunst 1870, S. 72), bzw. als eine Musikerin, die „in technischer Hinsicht unter den Wiener Pianistinnen nach Frau Auspitz-Kolar ziemlich den ersten Rang einnimmt“ (Neue Freie Presse 10. Jan. 1871).

Der Versuch, sich auch außerhalb der österreichischen Grenzen einen Namen zu machen, rief zunächst ein eher negatives Presse-Echo hervor. Als Pauline Fichtner 1869 beim 4. Abonnementskonzert im Leipziger Gewandhaus für Clara Schumann einsprang und das Konzert Es-Dur von Beethoven und Solowerke von Chopin und Rubinstein spielte, waren möglicherweise die Erwartungen zu hoch gespannt. Der Kritiker der „Neuen Berliner Musikzeitung“ fand, die Musikerin habe „noch nicht jenen Grad der Künstlerschaft erreicht, der allein befähigt, sich in unseren berühmten Concerten hören zu lassen“ (Bock 1869, S. 362). Eduard Bernsdorf von den „Signalen für die musikalische Welt“ schrieb, Pauline Fichtner habe „zu den von ihr gewählten Sachen sich technisch und geistig unfertig und unreif“ (Signale 1869, S. 900) verhalten, und die „Allgemeine musikalische Zeitung“ wurde noch deutlicher: „Diese junge Dame spielte mit ziemlicher Keckheit, aber in durchaus unfertiger Weise, Beethoven's Es dur-Concert, leidlicher zwei Solostücke: Nocturne von Chopin und Etude von Rubinstein. Es muss als ein arger Missgriff bezeichnet werden, dass man dem hiesigen Gewandhauspublikum dergleichen zu bieten wagte. Eine Schülerin des hiesigen Conservatoriums, welche sich unterstände, ein Beethoven'sches Concert derartig zu maltraitiren, würde man schwerlich je zu einer öffentlichen Prüfung zulassen“ (AmZ 1869, S. 358). Etwas gemäßigter klang das englische Urteil über die Pianistin, „whose experience is not equal to her ambition“ (Athenæum 1869 II, S. 601).

Am 14. Nov. 1869 konnte Pauline Fichter in einem Wohltätigkeitskonzert im Leipziger Vincentiusverein die Presse versöhnlicher stimmen. Nach einem Auftritt am 3. Dez. 1869 in Halle mit dem Konzert e-Moll von Chopin sowie Soli von Schumann und Reinecke wurde sie von der „Neuen Zeitschrift für Musik“ uneingeschränkt als „talentvolle, gutgeschulte Clavierspielerin“ gelobt. „Ihr Auftreten ist sicher und im Besitz einer tüchtigen Technik spielt sie mit Ausdruck und Eleganz. […] Im günstigen Lichte zeigte sich die junge Dame in den drei Solostücken, welche sie sämmtlich nicht ohne Verständniß, elastisch im Tempo und höchst zart und sauber spielte“ (NZfM 1869, S. 442).

Bis dahin war das Repertoire Pauline Fichtners von Joh. Seb. Bach, Scarlatti, Graun, Beethoven, Schubert, Chopin, Schumann und Reinecke geprägt gewesen. Lediglich der prominente Platz, den Joachim Raff in ihren Programmen einnahm (er widmete ihr seine 5. Klaviersuite g-Moll op. 162), konnte als Hinweis auf eine Vorliebe für die Neudeutsche Schule gedeutet werden. Das Jahr 1870 brachte diesbezüglich eine markante Wendung. In ihren Konzerten in Wien (5. März), Wiesbaden (15. Juli) und Prag (27. Nov.) war erstmals Liszts Fantasie über ungarische Volksmelodien (Bearbeitung der Ungarischen Rhapsodie Nr. 14) für Klavier und Orchester das Hauptwerk. Im Dez. 1870 fand sie sich in Pest zum ersten Mal bei Liszt ein und spielte ihm vor. Sein Klavierkonzert A-Dur führte sie in Prag am 4. Dez. 1870 und in Wien am 4. Jan. 1871 auf, hier ergänzt durch Liszts Fantasie über Motive aus Beethovens Ruinen von Athen. „Sie werden die Färbung sogleich selbst erkennen“ (Bock 1871, S. 45) schrieb der Wiener Korrespondent an die Redaktion der „Neuen Berliner Musikzeitung“. Und vollends, nachdem die „Neue Zeitschrift für Musik“ am 4. Aug. 1871 gemeldet hatte, dass Pauline Fichtner in Weimar bei einer Liszt-Matinee Schumanns Carnaval und Liszts Ungarische Rhapsodie Nr. 11 sowie bei den Schwestern Stahr die ihr gewidmete Klaviersuite von Raff vorgetragen hatte, war die Wendung zu den Neudeutschen – zumindest in der Wahrnehmung von Kritikern und Publikum – vollzogen. Am 24. Nov. 1871 wurde zwar im Frankfurter Museums-Konzert Fichtners Repertoire noch um das Mendelssohn-Konzert in g-Moll ergänzt, die Programmgestaltung der folgenden Jahre zeigt jedoch eine deutliche Neigung der Pianistin, Liszt in das Zentrum ihrer Arbeit zu stellen. Selbst bei der Auswahl der obligatorischen kleineren Solowerke bewies sie eine Vorliebe für Liszt und seine Bearbeitungen von Werken Schuberts, Schumanns und Wagners. Auch die persönliche Verbindung zu Liszt blieb eng. Am 28. Sept. 1873 spielte sie bei einem Liszt-Abend im Hoftheater Sondershausen in Anwesenheit des Komponisten sein Klavierkonzert A-Dur sowie am folgenden Tag seine Fantasie über ungarische Volksmelodien und versetzte nach Auskunft der „Neuen Zeitschrift für Musik“ „die sonst gewiß ruhigen und stillen Sondershäuser gradezu in die stürmischste Aufregung“, die erst nachließ, als „Frl. Fichtner […] sich noch einmal an den Flügel setzte, um einen Theil dieser ungarischen Rhapsodie zu wiederholen“ (NZfM 1873, S. 488). Ein weiteres Zusammentreffen ist Anfang 1874 dokumentiert, als Liszt in Wien zu Gast war und u. a. am 14. Jan. im Salon des Klavierfabrikanten Bösendorfer an einem Festbankett zu seinen Ehren teilnahm. „Der Flügel war geöffnet, vor ihm saß der Gefeierte, an seiner Seite die Pianistin Fräulein Pauline Fichtner, und nun ertönte der pompöse, durch seine gewaltigen Klangeffecte wie durch seine charakteristische Färbung so mächtig wirkende ‚Ungarische Krönungsmarsch‘, ausgeführt von vier virtuosen Händen“ (Die Presse 16. Jan. 1874). In derselben Zeitung wird Pauline Fichtner als Liszts „Lieblingsschülerin“ (ebd.) bezeichnet, und die „Wiener Zeitung" bemerkte wenige Tage später: „Das lebhafte Interesse, welches der Großmeister des Klaviers, Liszt, an ihren künstlerischen Leistungen nahm, ist wohl so gut wie ein Ehrendiplom“ (Wiener Zeitung 20. Jan. 1874). 1881 reiste Pauline Fichtner-Erdmannsdörfer mit Hans von Bülow nach Pest, „wo er [Bülow] mit unbeschreiblichem Erfolg einen Liszt-Abend gab (Erdmannsdörfer-Fichtner 1911) und Liszt seinen Gästen den „neuen Mephistowalzer [...], den er soeben beendet hatte“ (ebd.), vorspielte.

Pauline Fichtners Parteinahme blieb im weiteren Verlauf ihrer Karriere nicht ohne Folgen. Vor allem die „Allgemeine musikalische Zeitung“ nutzte zahlreiche Gelegenheiten zum Angriff. Sie werde etwa „den Ansprüchen, welche Chopin in musikalischer Beziehung stellt, nicht gerecht […]. Das eigentliche und ausschliessliche Element dieser Virtuosin scheint die ‚neudeutsche Schule‘ zu sein“ (AmZ 1872, Sp. 13). „Wir gingen höchst unbefriedigt von den Leistungen des Frl. Fichtner fort; denn in blosser Fingerfertigkeit finden wir keinen Kunstgenuss“ (AmZ 1872, Sp. 116). Auch ein Kritiker der „Signale“ stimmte in den Chor der Liszt-Gegner ein: „Fräulein Fichtner hat, seitdem wir sie zuletzt gehört haben, entschieden an Fertigkeit, Sicherheit wie an musikalischer Einsicht gewonnen, und durfte man im Großen und Ganzen mit ihren Executirungen recht zufrieden sein. Hätte es ihr nur gefallen, als Hauptnummer uns ein weniger entsetzliches Stück vorzusetzen, als die ungarische Fantasie (mit Orchester) von Liszt war! Unter dem Deckmantel des National-Musikalischen ist wohl kaum je eine ärgere Versündigung am guten Geschmack verbrochen worden, als durch dieses Stück“ (Signale 1872, S. 149).

Mit zahlreichen Auftritten konnte Pauline Fichtner in diesen Jahren jedoch ihren Ruf als „eine der hervorragendsten Pianistinnen“ (NZfM 1872, S. 339) der Gegenwart festigen: Wiesbaden, Mainz, Darmstadt, Schwerin (1871), Berlin, Chemnitz, Leipzig, Köln, Wiesbaden, Altmünster am Traunsee, Bad Ischl, Pest (1872), Weimar, Darmstadt, Berlin, Halle, Wiesbaden, Ems, Baden-Baden, nochmals Weimar, Sondershausen (1873). Anfang 1873 wurde sie vom Großherzog von Hessen-Darmstadt zur Großherzoglich Hessischen Kammervirtuosin ernannt. Im selben Jahr folgte die Ernennung zur Großherzoglich Sachsen-Weimarischen Hofpianistin, und der Fürst von Schwarzburg-Sondershausen verlieh ihr kurz darauf die Medaille für Kunst und Wissenschaft am blauen Bande.

Ihre Wiener Konzerte Anfang 1874 wurden in der Presse bereits als „Abschiedskonzerte“ angekündigt: Schon 1873 hatte sich Pauline Fichtner mit dem Sondershausener Hofkapellmeister Max Erdmannsdörfer (1848–1905) verlobt, die Hochzeit folgte Anfang Mai 1874. Dies bedeutete jedoch nicht das Ende der Karriere, auch nicht das Ende der Reisetätigkeit – im Gegenteil. Die Liste der Auftrittsorte bis zum Wechsel nach Moskau ist eindrucksvoll: Ems, Halle, Nürnberg, Mühlhausen (1874), Zürich, Hannover, Weimar, Erfurt, München, Baden-Baden (1875), Hannover, Jena, Halle, Plauen (1876), Königsberg, Eisenach, Leipzig (1877), Halle, Jena, Erfurt, Gera, Nürnberg, Bamberg, Erlangen (1878), Leipzig, Arnstadt (1879), Memel, Halle (1880), Wien, Dresden (1881), Jena, Leipzig, Dresden, Naumburg (1882).

Dennoch brachte die Heirat – neben der Übersiedelung nach Sondershausen – neue Schwerpunktsetzungen in der beruflichen Laufbahn von Pauline Fichtner-Erdmannsdörfer. „Das Ehepaar Erdmannsdörfer machte das bereits durch C. M. von Weber und L. Spohr berühmte Fürstenstädtchen Sondershausen mit den allsonntäglich bei freiem Eintritt stattfindenden Loh-Konzerten im Schloßpark zu einem Zentrum der Neudeutschen Schule“ (MGG 2000, Art. Erdmannsdörfer), in dem Liszt und Bülow häufige Gäste waren. Regelmäßige Matineen im Hause Erdmannsdörfer gehörten zu den kulturellen Höhepunkten der Residenz, und Pauline Fichtner-Erdmannsdörfer hatte zahlreiche Gelegenheiten, bei den Orchesterkonzerten als Solistin aufzutreten, so z. B. mit dem Klavierkonzert von Bronsart am 7. Aug. 1874, bei der Schumann-Feier am 26. und 27. Sept. 1875 mit dem Klavierkonzert a-Moll und mit dem Konzert a-Moll von Grieg am 28. Juni 1877. Mit Mitgliedern der Hofkapelle ergab sich Gelegenheit zur Kammermusik (Mozart, Beethoven, Kiel, Raff, Rubinstein), nicht nur in den Matineen, sondern auch in Hofkonzerten und Gastkonzerten außerhalb Sondershausens.       

In ihr Repertoire fanden nun auch Kompositionen von Max Erdmannsdörfer Eingang: Am 1. Nov. 1874 spielte sie in einem Nürnberger Wohltätigkeitskonzert seine „Clavierfantasie mit Orch.“ (NZfM 1874, S. 464), im März des folgenden Jahres erklang in Weimar ein nicht näher bezeichnetes Klavierkonzert aus seiner Feder. Auch ein Klaviertrio des Ehemannes kam mehrfach zur Aufführung, u. a. beim Kammerkonzert des Allgemeinen Deutschen Musikvereins in Erfurt am 24. Juni 1878. Kompositionen von Max Erdmannsdörfer für Klavier solo („Im Volkston“, „Malinconia“ aus den Reiseblättern u. a.) wählte die Pianistin häufig zur Ergänzung ihrer Programme. In eigenen Matineen und auswärtigen Konzerten trat sie mit ihrem Mann, der gleichermaßen als Geiger wie als Pianist ausgebildet war, als Klavierduo auf, z. B. mit seinen Nordseebildern zu vier Händen, mit Schumanns Andante und Variationen op. 46, der Fantasie für zwei Klaviere op. 115 von Raff (dem Ehepaar gewidmet), der Fantasie op. 73 und Einzelsätzen aus dem Bal costumé op. 102 für zwei Klaviere von Anton Rubinstein sowie mit dem Duo für zwei Klaviere op. 15 von Rheinberger.

Der Einsatz für die Neudeutsche Schule und neue Kompositionen brachte Pauline Fichtner-Erdmannsdörfer nicht immer Anerkennung. Relativ unbestritten waren jedoch ihre pianistischen Leistungen, wie dies beispielhaft in einer Besprechung der „Neuen Zeitschrift für Musik“ formuliert wurde: „Es gibt für diese Künstlerin keine Schwierigkeiten, spielend überwindet sie alle: der Schmelz ihres Piano wie ihre vollendete Technik und die Wucht ihres Anschlages zeugen gleichmäßig von ihrer hohen Künstlerschaft“ (NZfM 1877, S. 324). Als sie 1881 nochmals in ihrer Heimatstadt Wien konzertierte, bescheinigte ihr Eduard Hanslick zwar „große Fortschritte in technischer Beziehung, insbesondere bedeutende Kraft und Ausdauer“ (Neue Freie Presse 15. März 1881), nahm ihr „neudeutsch“ gefärbtes Konzert jedoch zum Anlass für Grundsätzliches zum Spiel von Pianistinnen: „Die bedauerliche Wahrnehmung, die wir an Fräulein Friedenthal und anderen Pianistinnen gemacht, wiederholte sich freilich auch hier: daß das ‚schwache‘ Geschlecht sich gegenwärtig allzusehr durch physische Stärke auszuzeichnen bemüht ist. Die einseitig zarte Behandlung der Claviatur, die man früher den Pianistinnen zum Vorwurfe machte, scheint gegenwärtig ins andere Extrem übergeschnappt: die Tasten werden gestochen und gehauen. Dieses Extrem ist das schlimmere, schon weil es das unnatürlichere ist. Wir lassen uns ein wildes, stürmisches Spiel gerne gefallen, wenn es als unmittelbarer Ausbruch einer kühnen, gewaltigen Persönlichkeit und von leidenschaftlicher Gluth durchleuchtet erscheint. Davon ist in unserem Falle nicht die Rede, sondern vielmehr von lediglich materiellem Kraftaufwande, der die Claviere ächzen macht und den Adel gesangvollen Vortrages vernichtet. Er läßt mehr auf innere Kälte schließen, als auf das Gegentheil. Auch Frau Erdmannsdörfer scheint sich nur im Fortissimo zu gefallen, womöglich bei gehobener Dämpfung; ein ruhig gesangvolles Mezzoforte, jene goldene Mitte des Tones, welche gleich zwanglos ins Forte wie ins Piano ausweicht, hörten wir selten von ihr. Spielt sie doch selbst melodiöse Gesangstellen gern mit hartem, stechendem Anschlag“ (ebd.).

Im Sommer 1880 quittierte Max Erdmannsdörfer seinen Dienst in Sondershausen. Nach kürzeren Aufenthalten in Wien, Leipzig und Nürnberg sowie Konzerten von Pauline Fichtner-Erdmannsdörfer in Memel, Halle, Wien, Dresden, Jena, Leipzig und Naumburg übersiedelte das Paar 1882 nach Moskau, wo Max Erdmannsdörfer als Nachfolger Nikolai Rubinsteins die Leitung der Russischen Musikgesellschaft und eine Professur am Konservatorium übernahm. Bereits am 17. Jan. 1883 ließ sich Pauline Fichtner-Erdmannsdörfer dort in einer Soiree der Musikgesellschaft mit Werken von Raff und Erdmannsdörfer hören, am 17. Febr. 1883 folgte ein Auftritt mit Liszts Klavierkonzert A-Dur, im selben Jahr ein Konzert, in dem nun neben bewährtem Repertoire auch Musik von Tschaikowsky erklang. Mit ihm trat das Ehepaar in regelmäßigen Kontakt. Ansonsten bleiben die Nachrichten in den deutschen Blättern spärlich, erst 1889 ist wieder ein Auftritt der Pianistin belegt.

Der Kontakt zum deutschsprachigen Raum blieb allerdings erhalten. Auf Vermittlung Hans von Bülows wurde Max Erdmannsdörfer nach Bremen berufen, wo er 1890 die Leitung der Philharmonischen Konzerte und der Singakademie übernahm. Wiederum fand Pauline Fichtner-Erdmannsdörfer Gelegenheit, sich im Rahmen der Philharmonischen Konzerte zu betätigen. Neben einer andauernden Vorliebe für Werke ihres Mannes und Joachim Raffs fällt hier erneut eine Wendung im Repertoire auf: Neben einem deutlichen Rückgang von Kompositionen Liszts kamen nun das Schumann-Konzert (2. Dez. 1890), das Klaviertrio H-Dur op. 8 von Brahms (Jan. 1892), die drei Violinsonaten von Brahms (8. Okt. 1892) und eine Rhapsodie von Brahms (1. Nov. 1893) zur Aufführung. „Mein Glaubensbekenntniß, das früher in Liszt gipfelte, hat trotz aller Schwärmerei für den Genius meines berühmten Lehrmeisters einen argen Stoß erlitten, indem ich in den letzten Jahren zur ausgesprochenen Brahms-Verehrerin geworden bin“ (zit. nach Morsch S. 160) schrieb die Musikerin an Anna Morsch. In Bremen, so formulierte sie in einem biographischen Text über ihren Mann, sei ein „schönes, gefestigtes und vornehmes Wirken“ (Erdmannsdörfer-Fichtner S. 161) möglich gewesen. Unter anderem knüpfte sie Kontakt zum Verlag Praeger & Meier, der 1894 und 1895 ihre Brautlieder veröffentlichte.

Am 21. März 1895 veranstaltete das Ehepaar in Bremen ein Abschiedskonzert, um anschließend nach München überzusiedeln. Abgesehen von Gastdirigaten Max Erdmannsdörfers in Petersburg blieb München nun der Wirkungs- und Wohnort. Aus dieser Zeit sind nur noch wenige Konzertauftritte Pauline Fichtner-Erdmannsdörfers belegt. Stattdessen betätigte sie sich als Klavierlehrerin und intensivierte ihre Tätigkeit als Komponistin. Insgesamt entstanden zahlreiche Lieder, zwei Phantasiestücke für Violine und Klavier sowie Werke für Klavier (vollständige Liste bei Marx/Haas). Vor allem einige Lieder wurden zu ihren Lebzeiten gelegentlich aufgeführt.

1903 erhielt Max Erdmannsdörfer den mit dem persönlichen Adel verbundenen bayerischen Kronenorden. Zuvor hatte das Ehepaar sein Vermögen einer Stiftung zur Unterstützung hilfsbedürftiger Musiker der Bayerischen Hofkapelle vermacht. Max Erdmannsdörfer starb am 14. Febr. 1905 an den Folgen einer Blinddarmoperation.

Das Internetportal „Kalliope" verzeichnet 30 Briefe von und an Pauline Fichtner-Erdmannsdörfer, die in Bibliotheken und Archiven in München, Berlin, Leipzig, Nürnberg und Marbach verwahrt werden.

 

Photographie von Josef Löwy.

 

WERKE FÜR KLAVIER 

Zwei Fantasiestücke für Violine und Klavier, Berlin: Ries & Erler 1892 (NA: Körborn 2011)

Thema e-Moll mit 9 Umspielungen für zwei Klaviere, München: Lewy 1910

Thema cis-Moll mit 10 Veränderungen, München: Lewy 1910

Ballade es-Moll, München: Lewy 1911

 

BEARBEITUNG

Max Reger, Walzer für Klavier zu vier Händen op. 22, für Klavier zweihändig bearbeitet von Pauline Erdmannsdörfer-Fichtner, München: Aibl 1903

 

SCHRIFTEN

Pauline v. Erdmannsdörfer-Fichtner, Art. „Erdmannsdörfer, Max von, in: Biographisches Jahrbuch und deutscher Nekrolog 10 (1907), S. 160–163.

Pauline v. Erdmannsdörfer-Fichtner, Erinnerungen an Franz Liszt. Zu Liszts 100. Geburtstag 22. Oktober, in: Münchener Neueste Nachrichten 22. Okt. 1911.

 

LITERATUR (Auswahl)

AmZ 1867, S. 90, 154; 1869, S. 358; 1872, Sp. 13, 54, 116; 1875, Sp. 297f.; 1877, Sp. 798

Athenæum 1869 II, S. 601

Blätter für Musik, Theater und Kunst 1864, S. 382; 1865, S. 414; 1866, S. 78, 88, 133; 1867, S. 4, 57f., 111, 121, 400; 1868, S. 128; 1869, S. 19; 1870, S. 72, 190, 286, 346, 389; 1871, S. 76, 83, 384, 408; 1873, S. 20, 144

Bock 1865, S. 409; 1867, S. 68, 77, 123, 159; 1869, S. 362; 1870, S. 108f., 239, 393; 1871, S. 45, 223, 247, 398, 407; 1872, S. 19, 70, 110, 134, 198f., 262f.; 1873, S. 22, 45, 83, 95, 358; 1874, S. 47, 187f., 246; 1875, S. 61, 102, 230; 1876, S. 374; 1877, S. 350; 1878, S. 220, 227; 1879, S. 375; 1880, S. 238; 1881, S. 86; 1882, S. 31, 46; 1889, S. 96; 1896, S. 355

Bremer Nachrichten 16. Febr. 1905

Deutsche Musik-Zeitung 1874, H. 7, S. 1

FritzschMW 1873, S. 598; 1896, S. 257

Illustrirte Zeitung [Leipzig] 1882 II, S. 5, 8

Monthly Musical Record 1871, S. 20; 1874, S. 39

Neue Freie Presse [Wien] 1865, 10. Jan.; 1869, 12. Jan.; 1871, 10. Jan.; 1874, 27. Jan., 15., 19. Febr., 4. März, 10. Okt.; 1881, 15. März

NZfM 1865, S. 57, 305f.; 1866, S. 14, 111, 119; 1867, S. 90, 106, 146, 154, 186, 312, 358; 1868, S. 6, 82, 166; 1869, S. 43, 50, 318, 374, 383, 400, 433, 442; 1870, S. 118, 167, 259, 274, 283, 289, 477; 1871, S. 26, 247, 255, 263, 278, 299ff., 327, 460f., 472, 484, 496f.; 1872, S. 21, 45, 74, 82, 217, 331, 339, 415f.; 1873, S. 26, 58f., 92, 102, 126, 144, 292, 322, 330, 352, 439f., 451, 463, 488; 1874, S. 42, 65, 109, 193, 229, 273, 286, 300, 323, 325f., 330, 373, 464, 485, 509; 1875, S. 101, 123, 132, 153, 213, 234, 255, 264, 275, 281, 323, 363, 397f.; 1876, S. 80, 137, 299f., 475; 1877, S. 97, 163, 291, 324f., 355, 381, 395, 432, 453, 466f., 490, 520, 534; 1878, S. 39, 118, 144, 268, 278, 280, 291, 302, 466, 489, 506ff.; 1879, S. 8, 116; 1880, S. 339f., 438, 528, 550; 1881, S. 119f., 152, 409, 481, 503; 1882, S. 4, 7, 19, 31, 40, 49, 51, 74, 84, 92, 104, 140f., 237, 252; 1886, S. 244; 1889, S. 363; 1890, S. 229f., 576; 1892, S. 518; 1893, S. 7, 408; 1895, S. 201; 1897, S. 66

Prager Abendblatt 1869, 9. März; 1870, 1., 3. Dez.

Die Presse [Wien] 1870, 9. Febr.; 1871, 13. Jan.; 1874, 15., 16., 24. Jan., 8., 17. Febr.

Signale 1867, S. 223; 1869, S. 311, 885, 900; 1870, S. 14, 339, 356; 1871, S. 868, 873; 1872, S. 38, 100, 137, 149, 505, 663; 1873, S. 93, 107, 154, 234; 1874, S. 165, 323; 1875, S. 134, 262, 330; 1876, S. 76, 204, 209, 269, 332, 982; 1877, S. 154, 842, 1108; 1878, S. 225, 343, 910; 1879, S. 339, 743; 1880, S. 129; 1881, S. 484; 1882, S. 84, 194, 247, 250, 329, 378, 393, 403f.; 1883, S. 317, 322, 429, 434, 939; 1885, S. 411; 1886, S. 634; 1889, S. 407, 458; 1890, S. 355, 1129; 1891, S. 956; 1892, S. 388, 988, 1063; 1893, S. 969, 1083; 1894, S. 84, 164, 518, 1093; 1895, S. 26, 411, 556, 807; 1896, S. 324, 459; 1897, S. 744

Das Vaterland [Wien] 1864, 29. Nov., 20. Dez.

Wiener Zeitung 1864, 26., 29. Nov.; 1867, 29. Aug.; 1870, 8. März; 1871, 13. Jan.; 1873, 31. Jan.; 1874, 20. Jan., 20. Febr., 24. März

Frank/Altmann, Riemann 11, Cohen, MGG 2000, Marx/Haas

M[ax] Charles, Zeitgenössische Tondichter. Studien und Skizzen, Leipzig 1888.

Franz Liszt's Briefe, hrsg. von La Mara, 3 Bde., Bd. 2, Leipzig 1893.

Franz Liszt' Briefe an die Fürstin Carolyne Sayn-Wittgenstein, 4 Bde., Bd. 3, Leipzig 1902.

Anna Morsch, Deutschlands Tonkünstlerinnen, Berlin 1893.

Illustriertes Konversationslexikon der Frau, 2 Bde., Bd. 2, Berlin 1900.

Walter Niemann, Meister des Klaviers. Die Pianisten der Gegenwart und der letzten Vergangenheit, Berlin 1919.

Silke Wenzel, „Pauline von Erdmannsdörfer-Fichtner“, in: MUGI. Musik und Gender im Internet, http://mugi.hfmt-hamburg.de/Artikel/Pauline_von_Erdmannsd%C3%B6rfer-Fichtner, Zugriff am 23. Sept. 2014.

http://kalliope.staatsbibliothek-berlin.de, Zugriff am 26. Sept. 2014.

 

Bildnachweis

Sammlung Manskopf, http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/manskopf/content/titleinfo/5462674, Zugriff am 24. Sept. 2014.

Marx/Haas, S. 113

 

Freia Hoffmann

 

 

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