Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

GrünnerGrüner, Gruner, Marie (eig. Maria), verh. Grünner-Messerschmidt, Messerschmidt-Grünner

* 1847 in Wien, † 15. Okt. 1895 ebd., Violinistin und Dirigentin. Marie Grünner war die Tochter des Volkssängers und Harfenisten Anton Grünner (1817–1867) und seiner Frau Maria geb. Visini (1823 – nach 1872). Der bekannte Wiener Volksmusiker Johann Schrammel war ein Cousin. Anton Grünner führte eine Volkssängergesellschaft, in der seine Frau und ab 1861 die beiden Töchter – neben Marie war dies Barbara Grünner (1852–?) – mitwirkten. Die Gesellschaft trat in Wien und Deutschland auf, reiste aber auch in die Schweiz und nach Konstantinopel (heute Istanbul).

Geigenunterricht erhielt Marie Grünner zunächst vermutlich von Balthasar Schütz (1825–nach 1892), der auch als Volkssänger tätig und mit Anton Grünner befreundet war. Später war sie Privatschülerin von Carl Heissler (1823–1878). Als Kind trat Marie Grünner bereits mit der Volkssängergesellschaft ihres Vaters auf. Um 1862 nahm sie ein Engagement in der Kapelle von Ludwig Morelly an und wirkte hier als Geigerin und als Dirigentin. 1862/1863 folgten Auftritte mit dem Geiger Carl Adam Drahanek jun. in Wiener Gaststätten. Mit dem Tod des Vaters im Jahr 1867 entstand die Notwendigkeit, den Lebensunterhalt selbständig zu verdienen. Ab 1868 sind Auftritte von Marie Grünner mit Maria und Thekla Putz in einem Zither- und Violinensemble dokumentiert. 1869/1870 trat die Geigerin mit dem Damenorchester von Josephine Weinlich auf und war hier als „erste Violinistin“ (Fränkischer Kurier 1869, Sept.) engagiert, die „sich auch als sehr gewandte, sichere Solospielerin“ (ebd.) gezeigt hat. Im Mai 1869 begab sie sich mit dem Orchester auf eine Konzertreise nach St. Petersburg, mit Stationen u. a. in Prag, Dresden und Berlin. Weitere Auftritte mit dem Orchester fanden in Bozen, Graz und Innsbruck statt. In Innsbruck veranstaltete Weinlich mit ihrem Orchester „zum Benefize für die erste Violinistin Fräulein Marie Grünner ein großes Konzert“ (Innsbrucker Nachrichten 11. Aug. 1869).

Ebenfalls 1869 beantragte Marie Grünner die Konzession zur Gründung eines eigenen Damenorchesters. Unter dem Namen „Erste Wiener Damencapelle“ trat das Ensemble im Frühjahr 1870 zunächst mit fünf Musikerinnen (2 Violinen, Flöte, Klavier, Schlaginstrumente) auf. In den folgenden Jahren stieg die Mitgliederzahl auf neun (1872) und elf (1873) Musikerinnen. Im Aug. 1870 trat das Ensemble in Salzburg auf. Ein Redakteur der „Salzburger Zeitung“ notiert: „Es war ein ganz neuer, aber recht anmuthiger Anblick, der sich gestern Abend im Mirabellgartensaal den Musikfreunden darboth – ein Orchester von hübschen graziösen Mädchen, das ein mannigfaches Programm von Tonstücken mit Feuer und Schwung ausführte. Das kleine Orchester besteht aus fünf jungen Mädchen, welche durch ihre Erscheinung schon für sich einnehmen. Sie alle sind weiß gekleidet, und zeichnen sich durch eine Decenz der Haltung und einen Anstand des Benehmens aus, daß das Publikum schon vorhinein für sie gewonnen ist. An ihrer Spitze steht als erste Violinistin und Dirigentin Frl. Marie Grünner, ein echt musikalisches Wesen, das die künstlerische Aufgabe mit sichtlichem Ernst und entschiedenem Talente erfaßt. Sie dirigirt das kleine Mädchen-Orchester mit wahrhaft männlicher Energie und umsichtiger Sicherheit. Dabei ist ihr Violinspiel so durchgreifend und markig, so korrekt und schwungvoll, daß sie die Vorzüge eines tüchtigen Orchesterspielers mit denen eines Virtuosen vereint. Im Solo zeigt sie einen schönen Ton, empfindungswarmen Ausdruck, sichere Technik und annerkennenswerthe Bravour, was sie z. B. in dem Vortrage der schwierigen Piece ‚das Vöglein am Baume‘ [Grand Caprice burlesque pour Violon et Orchestre L’Oiseau sur l’Arbre op. 34] von Miska Hauser vorzüglich bewies“ (Salzburger Zeitung 12. Aug. 1870). Auf Geschlechterklischees verzichtet der Rezensent nicht; er hebt mehrfach auf die äußere Erscheinung der Musikerinnen ab und erteilt Ratschläge für künftige Auftritte, schließt aber mit folgenden Worten: „Im Allgemeinen aber halten wir es für eine sociale Pflicht, einen solchen gelungenen praktischen Akt einer honnetten künstlerischen Frauen-Emancipation nach Kräften zu unterstützen“ (ebd.).

Ein Rezensent des „Grenzboten“ sinniert zudem über konkrete Berufsaussichten für Marie Grünner in Salzburg und macht in diesem Zuge – und vor dem Hintergrund bisheriger Professionalisierungsmöglichkeiten von Geigerinnen – progressive Vorschläge: „Die Violinistin Fräulein Marie Grüner hat [...] durch ihre conzertirenden Solovorträge [...] in Salzburg einen so ausgezeichneten Erfolg und die Anerkennung von Musikern in so hohem Grade errungen, daß man fast zu dem Wunsche hingerissen würde: es möge dem hiesigen Mozarteum gelingen, für die eben vakante Konzertmeisterstelle diese Virtuosin [zu] erwerben, wodurch uns die anmutige Künstlerin dauernd in Salzburg erhalten werde. Wenn dieser wirklich hinreißenden Solospielerin, die übrigens auch im Orchester mit der Fülle ihres Tones durchdringt, auch kaum jene materielle Entlohnung geboten werden könnte, die ihr gegenwärtig zu Theil wird, so ließe sich doch erwarten, daß die Künstlerin die ehrenvolle Stellung auch in die Wagschale legen und in Anrechnung bringen würde. Damen sind in ihren Gageanforderungen, mit Ausnahme der großen Sängerinen [sic], in der Regel bescheidener und es wäre möglich, daß eine selbst tüchtige Violinistin sich mit einer Gage begnügen würde, die an einem großen Orchester der Paukist bezieht, wenn ihr der schmeichelhafte Titel einer ‚Konzertmeisterin‘ in Aussicht stände. Uebrigens soll Fräulein Grüner […] katholischer Religion sein und würde somit ihre Verwendung auch im figurirten Kirchenmusikdienste des Domes auf kein Hinderniß stoßen“ (Der Grenzbote 1870, S. 313).

In Wien gab es zu dieser Zeit einige solcher Damenkapellen, die sich „großer Beliebtheit erfreuten“ (Weber 2006, S. 251) und regelmäßig in den Praterlokalen auftraten. Auch die Damenkapelle von Marie Messerschmidt-Grüner war häufig in den dortigen Unterhaltungslokalen zu hören, u. a. bei Prohaska, im Eisvogel sowie im Ersten und Zweiten Kaffeehaus, und trat in vielen weiteren Wiener Gaststätten auf. Darüber hinaus unternahm Marie Grünner mit ihrem Ensemble einige Konzertreisen, die die Musikerinnen durch Europa führten. Bis in die 1890er Jahre soll das Ensemble den „Signalen für die musikalische Welt“ zufolge „alle Hauptstädte Europa’s besucht“ (Signale 1895, S. 807) haben.

Am 18. Apr. 1872 heiratete Marie Grünner den Wiener Klavierlehrer Ludwig Messerchmidt (1848–1900). Zwei Töchter wurden in den nächsten Jahren geboren: Maria Anna Ludovica (1872–1941) und Eugenia Juliana Maria (1874–?). Sowohl Ludwig Messerschmidt als auch die Töchter wirkten als Mitglieder in der Damenkapelle mit. Ludwig Messerschmidt fungierte als Direktor, Maria spielte Violoncello und Eugenia Geige.

 

Familie Messerschmidt-Grünner

v. l. n. r.: Eugenia, Marie, Ludwig und Maria Messerschmidt-Grünner

 

1889 reiste die Wiener Damenkapelle zur Weltausstellung nach Paris. Von Febr. bis Mai hatten die Musikerinnen ein Engagement in Amsterdam. Hier spielten sie jeden Abend, samstags und sonntags zudem im Rahmen einer Matinee in dem Nederlandsch Panopticum. Nach viermonatiger Konzerttätigkeit veröffentlichte Marie Messerschmidt-Grünner einen Dank in dem „Algemeen Handelsblad“: „Gevoelig voor de vele bewijzen van sympathie, welke de bezoekers van het Nederlandsch Panopticum ons gedurende ons verblijf zoowel als met ons vertrek geleverd hebben, betuigen wij onzen hartelijken dank en roepen U een vaarwel en tot weerziens toe“ („Gerührt von den vielen Beweisen der Sympathie, welche die Besucher des Nederlandsch Panopticums uns während unseres Aufenthalts sowie bei unserer Abfahrt bekundet haben, sagen wir unseren herzlichen Dank und rufen Ihnen ein Lebewohl und auf Wiedersehen zu“, Algemeen Handelsblad 2. Juni 1889).

Im Juni 1889 befand sich die Violinistin mit ihrem Ensemble in Barn/Utrecht. Im Café Sanatorium veranstaltete sie mit den Musikerinnen am 9. Juni ein Konzert und am 10. Juni zwei Konzerte. 1890, 1892 und 1893 konzertierte die „Wiener Damencapelle“ wiederholt in den Niederlanden. Für März 1893 sind einige Auftritte im Rotterdammer Café Pschorr belegt. Aus den Programmen geht hervor, dass Marie Messerschmidt-Grünner in den Konzerten des Orchesters auch solistisch in Erscheinung getreten ist.

Neben ihrer Arbeit in der Damenkappelle trat Marie Grünner weiterhin mit verschiedenen Gesellschaften in Wiener Gaststätten auf. Nach dem Tod der Violinistin übernahm ihr Ehemann die Leitung der „Wiener Damencapelle“, die, bestehend aus sieben Damen und drei Herren, u. a. 1898 in Skandinavien konzertierte.

 

LITERATUR

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Taufbuch Pfarre Alservorstadt 1872–1873, in: Matriken. Bestände Österreich. Wien/Niederösterreich (Osten): Rk. Erzdiözese Wien, 08., Alservorstadtpfarre, Folio 271.

Sterbebuch Pfarre Gersthof, 1858–1895, in: Matriken. Bestände Österreich. Wien/Niederösterreich (Osten): Rk. Erzdiözese Wien, 18., Gersthof, Folio 230.

Sterbebuch Pfarre Gersthof, 1899–1911, in: Matriken. Bestände Österreich. Wien/Niederösterreich (Osten): Rk. Erzdiözese Wien, 18., Gersthof, Folio 44.

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Ernst Weber, „Schene Liada – Harbe Tanz: Die instrumentale Volksmusik und das Wienerlied“, in: Wien. Musikgeschichte. Volksmusik und Wienerlied (= Geschichte der Stadt Wien, hrsg. vom Verein für Geschichte der Stadt Wien 6, Teil 1), hrsg. von Elisabeth Theresia Fritz u. Helmut Kretschmer, Wien 2006. S. 149–456.

Monika Kornberger, Art. „Grünner (Grüner), Familie“, in: Österreichisches Musiklexikon online, 2019, https://www.musiklexikon.ac.at/ml/musik_G/Gruenner_Familie.xml, Zugriff am 25. Mai 2022.

 

Bildnachweis

Die Bombe [Wien] 30. Aug. 1891

 

Annkatrin Babbe

 

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