Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

Berner, Mariane, Marianne von

Get. am 28. Dez. 1791 in Mitau [Jelgava], Lettland, † nach 1830 wohl in Italien, Violinistin. Sie war Kind einer wohlhabenden kurländischen Familie: Ihre Mutter, Marianne geb. Klatzo, stammte aus einer Rigaer Familie von Kaufleuten. Der Vater, Johann Friedrich (von) Berner (1756−1824), war ein in Mitau hoch angesehener Bankier, dem es in den 1790er Jahren gelang, sowohl in den Reichsadel als auch in die kurländische Ritterschaft aufgenommen zu werden. Aus dieser und einer vorhergehenden Ehe hatte Johann Friedrich von Berner vier überlebende Kinder, darunter zwei Töchter. Mariane von Berners jüngere Schwester Anna Luise verh. Catalano (1795−1868 oder 1869) wurde Malerin, während über die Söhne derzeit keine Informationen vorliegen.

Die Entfaltungsmöglichkeiten für Mariane von Berner waren offenbar hervorragend: Wohl vor allem gefördert durch den Vater, nahmen Kunst und Kultur im Hause von Berner einen hohen Rang ein. So berichtet die Zeitgenossin Sophie von Hahn: „Nicht weit von dem Pahlenschen Hause in der Palaisstraße erhob sich ein schönes Gebäude, in welchem Kunst und geistiges Leben mit edelsten Ergebnissen gepflegt wurden. Sein Erbauer war Herr v. Berner, der durch Bankiergeschäfte ein Vermögen erworben hatte, das ihn gleich den Geldmännern des Mittelalters instand setzte, seinem Geschmack für höhere Lebensgenüsse Genüge zu tun“ (Taube, S. 198f.). Kennzeichen dieses Lebensstils, der sich nicht nur im Mitauer Haus, sondern auch auf den beiden Landgütern der Familie zeigte, war etwa der Besitz einer von zwei Mitauer Gemäldesammlungen (die beispielsweise Werke alter Niederländer enthielt) sowie der Ankauf von Büchern. So ist in einem Nekrolog über ihn zu lesen: „Auch war sein Haus von Einheimischen und Fremden als ein Tempel der Kunst und der Wissenschaft gekannt. Eine reiche und wohlgewählte Bücher-Sammlung wurde wie das Gemein-Eigenthum seiner Freunde behandelt“ (Ostsee-Provinzen-Blatt 1824, S. 50).

Nicht nur die elterlichen Verhältnisse boten gute Entwicklungsmöglichkeiten für Mariane von Berner, sondern auch Art und Lage Mitaus. Die überschaubare Stadt befand sich einerseits weit von den mitteleuropäischen Kulturzentren entfernt. Fragen wie die angemessene Instrumentenwahl für Frauen mögen hier weniger wichtig gewesen sein, zumal der gehobene soziale Status der Familie von Berner etwaige Diskussionen wohl verhinderte. Andererseits befand sich die Stadt an der damals einzigen Verbindung nach St. Petersburg, „und Mitau erschien jedem Reisenden, der im tiefen Sande Ostpreußens in vierundzwanzig Stunden nur drei bis vier Stationen hatte passieren können und alle Entbehrungen an Speise, Trank und Obdach ausgestanden hatte, als eine lachende Oase, in der es sich gut ausruhen ließ“ (Taube, S. 192). Auch durchreisende Künstler machten in Mitau Station, wobei das Haus von Berner sich zu einem zentralen Punkt entwickelte. So schreibt der mit seinem Lehrer Franz Eck 1802 durch Mitau reisende Louis Spohr in seinem Tagebuch: „Herr von Berner, der mich besonders liebgewonnen hatte, lud mich ein, auf der Rückreise von Petersburg einige Monate bei ihm auf dem Lande zuzubringen“ (Spohr I, S. 35). Weitere namhafte Musiker lassen sich als Besucher des Hauses und der Landgüter (insbesondere des Guts in Stalgen, am linken Ufer des Flusses Lielupe, ca. 20 km von Mitau entfernt) von Berners nachweisen, etwa der Pianist John Field, der 1805/06 zu Gast war. Doch es waren vor allem Geiger, welche die Familie besuchten: Neben Eck und Spohr beispielsweise Wilhelm Ludwig Maurer (1789−1878), der 1806 dort war. Wohl ebenfalls 1806 weilte vermutlich auch Luigia Gerbini auf Stalgen. Zudem waren zwei der wichtigsten Violinisten jener Zeit bei der Familie von Berner zu Gast: Pierre Baillot, der auch ca. 1806 dort durchreiste, sowie Pierre Rode, der während seiner Petersburger Anstellung 1804–1808 mutmaßlich mehrfach bei den von Berners zu Gast war.

Die besondere Konstellation, in der trotz der abgelegenen Lage Mitaus einige der berühmtesten Violinisten dort durchreisten und teilweise dort einige Zeit verbrachten (Maurer etwa sechs Monate), dürfte für Mariane von Berners violinistische Entwicklung höchst förderlich gewesen sein. Wer ihr ersten Unterricht erteilte, ist unbekannt, offenbar aber begann sie relativ spät mit dem Violinspiel. Ein früher Lehrer war Pierre Rode (1774−1830), zentraler Protagonist der in dieser Zeit führend werdenden Französischen Violinschule und zuvor Professor am Pariser Konservatorium. „Von Rode selbst hat Fr. v. B. nur einen Monat vortheilen können, und zwar zu einer Zeit, da sie noch Anfaengerin auf dem Instrumente war, d. h. vor etwa drey Jahren“, so die in Mitau erschienenen „Wöchentlichen Unterhaltungen für Liebhaber deutscher Lektüre in Russland“ (1806 I, S. 409). Dementsprechend hatte Mariane von Berner mit ca. 12 Jahren begonnen, Violine zu spielen. „Dann setzte sie ihr Studium unter der Leitung des beruehmten Violoncellisten [Jacques Michel Hurel de] Lamare [1772−1823], der sich 6 Monate im Haus ihres Vaters aufhielt, so gluecklich fort, daß, nach dem Urtheil von Kennern, die Zahl der Violinisten gering seyn duerfte, die ihre Meister werden koennten“ (ebd.). Weitere Ausbildungsdaten liegen nicht vor, es ist insbesondere unklar, inwieweit die Violinistin von anderen Geigern, die in den Häusern des Vaters zu Gast waren, Unterricht erhalten hat. Sophie von Hahn notiert: „Die größten Künstler der Zeit fühlten sich dorthin [in das Haus von Berners] gezogen und weilten gern, sei es in Mitau, sei es in dem hübschen, gepflegten, blumenreichen Stalgen unter Berners gastfreiem Dache und fanden Freude daran, Mariannes genialisches Spiel zu immer größerer Vollkommenheit auszubilden“ (Taube, S. 199).

Das Spiel Mariane von Berners ist in Umfang und Qualität nur schwer einschätzbar. Denn die Geigerin gehörte, wie 1820 in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ zu lesen war, „nur dem Hause“ (AmZ 1820, Sp. 593) an, ihre Musikpraxis spielte sich im Wesentlichen nicht in öffentlichen Konzertsälen ab. Der wohl umfänglichste Text über diese Frau, erschienen im „Journal des Luxus und der Moden“, merkt denn auch an: „Eine solche ausgezeichnete Virtuosin sollte der musikalischen Welt angehören, und es ist zu bedauern, daß sie als die Tochter eines reichen Gutsbesitzers und Bankiers wohl nie den Privatstand verlassen wird, um dem übrigen Europa Theil an ihrer vollendeten Kunst nehmen zu lassen“ (Journal des Luxus und der Moden 1817, S. 613). Dennoch lassen sich einzelne öffentliche Konzerte nachweisen, in denen Mariane von Berner auftrat. Bereits 1804 spielte sie innerhalb eines Konzerts ihres Lehrers Lamare im Rahmen der damals in Mitau stets ausgiebigen Feierlichkeiten zur Johanniszeit (Ende Juni). Auch im Folgejahr musizierte Mariane von Berner öffentlich an der Seite Lamares, diesmal im Zuge eines Treffens des kurländischen Adels in Mitau. 1807 gab Pierre Rode ein Konzert dort, auf dem Programm stand auch ein „Doppelkonzert von Kreutzer, gespielt von Fraeulein Marianne v. Berner und Herrn Rode“ (Wöchentliche Unterhaltungen 1807 I, S. 383). Die seltenen öffentlichen Auftritte Mariane von Berners könnten auch im Zusammenhang mit mangelnden Gelegenheiten zu sehen sein: Das Musikleben in Mitau war kaum entwickelt, erste Versuche, 1811 Liebhaberkonzerte ins Leben zu rufen, blieben kurzlebig. 1819 gründete sich ein Musikalischer Verein, bei einem Benefizkonzert des Vereins 1826 trat Mariane von Berner auf. In der Ankündigung war sie, „Ehrenmitglied und […] Stolz des hiesigen musikalischen Vereins“ (Allgemeine deutsche Zeitung für Rußland. Beylage [Mitau] 8. Mai 1826), die einzige namentlich genannte Künstlerin.

Konzertanzeige, Rigasche Zeitung 27. Apr. 1826.

 

Schwerer zu ermitteln als ihr öffentliches Musizieren war das Spiel in halböffentlichem oder privatem Rahmen. Bekannt wurden solche Auftritte, wenn Personen öffentlichen Interesses teilnahmen. Etwa 1805, als Herzogin Dorothea von Kurland „das Violinspiel des Fraeulein Mariane von Berner kennen zu lernen wuenschte, wurde im Hause des Hrn. Vaters der letztern eine musikalische Frühmette gehalten, worin die junge Kuenstlerin Jedermann zur Bewunderung und Begeisterung hinriß. Sie fuehrte ein aeußerst schwieriges und schönes Konzert von Baillot, dann ein Quatuor von Rode aus; ganz in dem großen Sinn dieser großen Meister“ (Wöchentliche Unterhaltungen 1806 I, S. 409). Dass die Herzogin und Ehefrau Peters von Biron zu den von Berners nach Hause kam, spricht dabei für den sozialen Status, den der Vater inzwischen erreicht hatte. Als die russische Großfürstin Elisabeth Alexejewna 1810 Mitau besuchte, spielte für sie wiederum Mariane von Berner: „Nach aufgehobener Mittagstafel begaben sich Ihre Majestät in Ihr Kabinet, wo Sie durch ein kleines, von Liebhabern veranstaltetes Konzert überrascht wurden. Fräulein von Berner, deren Virtuosität auf der Violine ich schon in dieser Zeitung erwähnt habe, und Fräulein von Medem aus Wilzen, welche das Klavier mit eben so anspruchsloser als seltener Kunst spielt, gewannen den Beifall der Monarchin in einem hohen Grade, und erhielten [...] jede ein Fermoir [Schließe], reich mit Brillanten besetzt“ (Zeitung für die elegante Welt 1810, Sp. 1394f.). Die Geigerin wurde offenbar für geeignet befunden, das kulturelle Leben Mitaus nach außen zu repräsentieren, ohne dabei jedoch selbst auf öffentlicher Bühne wirksam sein zu müssen.

Stattdessen war der hauptsächliche Wirkungsbereich dieser Geigerin das elterliche Haus. Dies wiederum blieb bei weitem keine so private Angelegenheit, wie es sich vielleicht denken ließe: „Kein Freund der Musik reist durch Mitau, der sich nicht bemüht, sie in ihrem väterlichen Haus zu hören, und dieses gastfreie Haus ist ein Tempel der Musen und Grazien, wo gern jedem gebildeten Mann der Zutritt gestattet wird“ (Journal des Luxus und der Moden 1817, S. 613). Der Zugang zum Spiel der Mariane von Berner war also keineswegs schwierig, sondern bei entsprechendem sozialen Stand problemlos möglich. Offenbar war ihr Spiel in solchem Rahmen nicht selten zu hören. Sophie von Hahn: „Ich war Stammgast bei den Quartetten, die winters jeden Samstag die Musikfreunde bei Berners vereinigten“ (Taube, S. 199).

Die Wahrnehmung Mariane von Berners war ungewöhnlich: Die Instrumentenwahl wurde offenbar nicht thematisiert, stattdessen wurde ihr Spiel oft hoch gelobt, bisweilen gar in einer Weise gepriesen, wie sonst nur jenes der größten Berühmtheiten. So beschreibt das „Journal des Luxus und der Moden“: „Ich habe Fräulein Mariane von Berner, die große Violinspielerin gehört. Man müßte eine eigene Sprache erfinden, die classische Vollkommenheit zu bezeichnen, wodurch sie ihre Meisterschaft beurkundet. Sie hat den Geist ihres Instruments in allen seinen möglichen Effecten studiert, und übt eine so unbegränzte Herrschaft über dasselbe aus, daß es ihr nie versagt, die ganze Stärke, so wie die sanftesten Regungen einer durchaus musikalischen Seele in Tönen wiederzugeben. Einen solchen Reichthum an Mitteln, wie sie ihn besitzt, das Instrument nach Willkühr zu behandeln, fand ich nur bei Wenigen der größten Künstler. Frei von aller Manier, stehen ihr alle Manieren zu Gebote, wo sie irgend eine zum reinen Ausdruck des Gedankens als nothwendige Bedingung anerkennt. Sie macht die Saiten singen, beben, zittern, klingen, rauschen, jauchzen, schreien; sie läßt aus weiter Ferne die Töne nahen, anschwellen, wieder verhallen, ihr Bogen haucht die Saiten an, oder entreißt ihnen mit unwiderstehlicher Gewalt, wo es seyn muß, jede Gradation des Schalls. Kurz sie macht, was sie will, aus ihrem Instrumente. Sie kennt keine Schwierigkeit und läßt dem Ohre niemals eine bemerken. Wer ihr bloß mit dem Gehör folgt und nicht etwa in Gedanken mit Finger und Bogen nachspielt, der glaubt, sie spiele die leichtesten Sachen, während sie vielleicht die ausstudierteste Schwierigkeit eines Polledro oder Beethoven vorträgt. Geläufigkeit, Präcision, Stärke, Anmuth, Geschmack – alle diese und andere Erfordernisse eines schönen Vortrags sind bei ihr zwar nothwendige und unerläßliche, doch aber dem Zweck der Kunst jederzeit untergeordnete Mittel; sie erscheinen in ihrem Spiel, wenn ich so sagen darf, als die Organe eines belebten Körpers, dem ihre Kunst erst eine Seele, ein geistiges Leben einhaucht“ (Journal des Luxus und der Moden 1817, S. 612f.). Solche und ähnliche Rezensionen dürften vor verschiedenen Hintergründen verfasst worden sein: Eine Rolle spielte dabei mutmaßlich die persönliche Nähe von Rezensenten zur Familie, insbesondere von Christian Ernst von Trautvetter, dem Hauptrezensenten der in Mitau erscheinenden „Wöchentlichen Unterhaltungen für Liebhaber deutscher Lektüre in Russland“, der aber auch in überregionalen Blättern über Mariane von Berner schrieb. Auch Lokalpatriotismus mag bisweilen zur großen Euphorie beigetragen haben, schöpfend aus dem Umstand, dass aus dem sonst kaum mit eigenem Musikleben ausgestattete Mitau eine hervorragende Künstlerin stammte. Aber auch der Rahmen, in welchem die Musikerin meist zu hören war, dürfte Einfluss auf die Wahrnehmung gehabt haben: Wer die Gastfreundschaft der von Berners annahm, war den Leistungen der Tochter des Hauses wohlgesonnener als denen einer anonymen Violinistin auf einem öffentlichen Podium. So schwärmt Eduard Kolbe, der durch Mitau reiste: „In den Familien und Gesellschaften dieses begüterten Adels und der Bürgerlichen vergingen mir die Tage im schönsten Lebensgenuß. Auf Kurlands Boden findet man noch die große, edle Gastfreundschaft“ (Bd. 3, S. 112). Auch er hatte Mariane von Berner gehört und kommentiert entsprechend: „Fräulein Berner, die geniale Schülerin Rohde’s, war meinem Enthusiasmus für Musik eine Erscheinung, wie sie mir in solcher Vollendung in einem weiblichen Wesen noch nicht vorgekommen war. Die Violine war das Echo ihrer Seele. Dies Instrument trat unter ihren elastischen Fingern und dem langen Bogenstriche in dem ganzen Uebergewicht und all dem Glanze auf, die kein anderes Instrument diesem Quell himmlischen Genusses streitig machen kann. Was es an vollen und lieblichen Tönen besitzt, damit entzückte die Meisterin die Herzen der Hörer mit bezaubernder Macht. Ich habe die Blumen, die ihr Genius in jedes harmonische Gewebe flocht, erst lange nachher in Ole Bul’s [sic] Adagio wiedergefunden“ (ebd., S. 110f.). Keineswegs jedoch sind solche Beurteilungen als Gefälligkeitsrezensionen abzutun – gerade Kolbes Text wirkt in seiner nicht kühl fachlichen, sondern schwärmenden Begeisterung für Mariane von Berner nicht nach einer Pflichterledigung gegenüber den Gastgebern.

Die Verbundenheit Mariane von Berners an das elterliche Haus als Aktionsort war offenbar ausgeprägt, das Publikum kam ebenso zu ihr wie ihre Lehrer. Eine solch entschiedene Bindung erscheint einerseits ungewöhnlich selbst in Zeiten, in denen Frauen räumlich als dem Haus zugehörig verortet und öffentlich auftretende Instrumentalistinnen per se kritisch angesehen wurden. Ähnlich wie im Fall der nicht öffentlich auftretenden, dennoch bestens beleumundeten Wiener Pianistin Dorothea Ertmann waren auch die Mauern des Hauses von Berner durchlässig, so dass die Kunde von den Künsten der Tochter nach außen dringen konnte. Selbst im fernen Wien war von ihr zu hören − Carl Amenda etwa schreibt an seinen Freund Beethoven: „Musikalischen Genuß hab’ ich höchst selten, zuweilen noch in unserer Hauptstadt Mitau, wo ein vortreffliches Mädchen, Marianne von Berner als Violinspielerin, unstreitig, der ersten Größe, glänzt“ (zit. nach Brandenburg, Bd. 3, S. 125). Der Beethoven-Biograph Wilhelm von Lenz ordnet die Fähigkeiten der Geigerin zudem ein: „Von dem musikalischen Theil des kurländischen Adels läßt sich im Allgemeinen sagen, daß er ausschließlicher wie der livländische zu klassischer Musik neigt. Es mag das ein Erblaß des Fräuleins von Berner in Mitau sein, welcher Violindilettantin Baillot, Rode und Lafont ein Quartettspiel ersten Ranges zugestanden. Fräulein v. Berner folgte im Repertoir ihrem Vorbild Rode, an dessen großen Ton und breites Spiel sie erinnerte, sie spielte mit Auswahl Haydn, wie Rode, nicht immer alle Sätze eines Quartetts. Ueber die sechs ersten Quartette von Beethoven kam das Fräulein in Mitau nicht hinaus“ (Lenz, Bd. 2, S. 277).

Die Verhältnisse in Mariane von Berners Leben änderten sich schlagartig, als Johann Friedrich von Berner 1824 unter Hinterlassung einer großen Schuldenlast“ (Taube, S. 199) starb. „Die Schwestern“, so Sophie von Hahn, „konnten das mütterliche Vermögen noch retten, doch war ihnen Kurland verleidet; nach dem Tode der alten Frau verließen sie es für immer und zogen nach Italien, wo Luise einen Gemahl, Marianne, die schon länger unwiderruflich mit ihrer Violine vermählt war, Anerkennung und Bewunderung fand“ (ebd.). Vermutlich nach 1828 verließen die Schwestern Mitau, Mariane von Berner siedelte sich in Neapel an, „wo sie noch das einzige nennenswerthe Quartett der Stadt um ihre Person versammelt“ (Lenz, Bd. 2, S. 277). Pierre Baillot bestätigt in einem Brief an Ferdinand Hiller den Aufenthalt der Geigerin in Neapel und würdigt sie: „A Naples, Madlle Marianne de Berner, que j’ai connue il y a 30 ans dans sa famille à Mitau, habite cette ville avec son frère et sa soeur. C’est une personne accomplie, talent très distingué sur le violon, – nourrie des oeuvres de tous nos grands auteurs et faisant fidèlement des Quatuors chaque semaine pour son plaisir et pour celui de quelques amis. Liée avec le Doyen des Chanteurs la Celibra, l’admirable Crescentini. Il vous suffira de Vous nommer pour être reçu comme Vous le méritez par Madlle Marianne de Berner en sa famille. Vous m’obligerez de leur parler de mon entier dévouement, de mon attachement inaltérable“ („In Neapel wohnt Madlle. Marianne von Berner, mit der ich vor 30 Jahren in ihrer Familie in Mitau bekannt geworden bin, mit ihrem Bruder und ihrer Schwester. Sie ist eine vollendete Person, ein ausgezeichnetes Talent auf der Violine, − genährt von den Werken aller unserer großen Meister, und sie musiziert zuverlässig allwöchentlich Streichquartette zu ihrem Vergnügen und zu dem einiger Freunde. Sie hat Verbindung zu dem Doyen der gefeierten Sänger, dem bewundernswerten Crescentini. Es wird genügen Ihren Namen zu nennen, damit Sie von Mlle. Marianne von Berner in ihrer Familie so empfangen werden, wie Sie es verdienen. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie ihr meine tiefe Ergebenheit und stete Verbundenheit übermittelten“ (zit. nach Sietz, Bd. 1, S. 28). Aber auch in Mitau wurde sie keineswegs vergessen. Noch 1844 notiert Robert Schumann bei seiner Durchreise durch den Ort: „In Mitau viel erzählt v. d. Violinspielerin Berner, die jetzt in Neapel“ (Schumann, Bd. 2, S. 307).

Pierre Rode hat Mariane von Berner eines seiner Andante varié (1805) gewidmet (ein Streichquartett im Stil eines Quatuor brillant). Ulrich von Schlippenbach, der die Violinistin auf seinen „Malerischen Wanderungen durch Kurland“ würdigt, schrieb für sie das Gedicht „Die gerissene Saite. Als Fräulein Marianne von Berner spielte“ (1822). Ein von Anna Luise von Berner angefertigtes Porträt ihrer Schwester befand sich einst im Museum in Mitau, der Verbleib des Bildes ist ungeklärt.

 

Pierre Rode, Titelblatt der Mariane von Berner gewidmeten Komposition.

 

LITERATUR

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AmZ 1820, Sp. 592–594

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Der Freimüthige oder Ernst und Scherz 1804 II, S. 59; 1806 II, S. 248

Journal des Luxus und der Moden 1817, S. 612–614

Morgenblatt für gebildete Stände 1821, S. 540; 1823, S. 1096

Nordisches Archiv 1804 III, S. 52

Ostsee-Provinzen-Blatt 1824, S. 50

Rigasche Zeitung 27. Apr. 1826

Wöchentlichen Unterhaltungen für Liebhaber deutscher Lektüre in Russland 1805 I, S. 434; 1806 I, S. 408–410; 1806 II, S. 115f., 415f.; 1807 I, S. 383–388

Zeitung für die elegante Welt 1805, Sp. 368; 1810, Sp. 1394−1396

Gathy, Fétis (Art. Baillot, Pierre-Marie-François de Sales)

Ulrich Freyherr von Schlippenbach, Malerische Wanderungen durch Kurland, Riga u. Leipzig 1809.

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Volker Timmermann

 

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