Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

Bianchini, Maria

* 1835 in Venedig, † 1910 (Ort unbekannt), Flötistin. Weder über Herkunft noch Jugend gibt es Zeugnisse. Ihre künstlerische Ausbildung erhielt sie bei Giulio Briccialdi (18181881). In den 1870er Jahren konzertierte sie vor allem in Italien (Neapel, Mailand, Venedig). Im Januar 1880 spielte sie in Graz und gab am 13. Februar ein vielbeachtetes Konzert in Wien. Eduard Hanslick eröffnet seine Rezension mit dem vielsagenden Satz: „Endlich einmal eine Rarität auf dem großen Concertmarkte: Signora Bianchini, eine Flötenvirtuosin“ (Neue Freie Presse 18. Febr. 1880) und signalisiert damit, dass auch im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine Frau, die öffentlich als Flötistin auftrat, keinesfalls schon zum Normalfall geworden war. Der Kritiker fährt fort, die Künstlerin leiste „sehr viel auf ihrem schwierigen Instrumente. Sie hat einen guten Ansatz, langen Athem und einen starken Ton, so weit er billigerweise von einer Dame zu verlangen ist. Die Vorzüge der ‚Böhm-Flöte‘, welche leichter anspricht und die Lunge weniger anstrengt, kommen der Concertgeberin hierin zu statten. Im Vortrag der Cantilenen fanden wir Signora Bianchini geschmackvoll, im Passagenwerk geläufig, sicher und elegant. Sie reussirte besonders in einer Phantasie von Franz Doppler, deren gefällige Wirkung durch den exotischen Reiz walachischer Volksmelodien erhöht wird. Das Ungewohnte des Anblicks machte sich weniger fühlbar, als wir vermuthet; Signora Bianchini, eine hochgewachsene Gestalt von sympathischer Einfachheit und Natürlichkeit des Benehmens, enthält sich der unschönen Lippenverzerrungen und des kurzathmigen Pustens, welche dem ästhetischen Eindruck des Flöteblasens so leicht gefährlich werden. Also gehandhabt ist die Flöte gewiß kein unweibliches Instrument. Signora Bianchini erntete reichlich Beifall in ihrem gutbesuchten Concerte“ (ebd.). Hanslicks Besprechung erregte aufgrund ihres Gegenstandes Aufsehen  die englische „Musical World“ brachte 10 Tage später (28. Febr.) eine Übersetzung heraus, das amerikanische „Dwight’s Journal of Music“ folgte im Abstand von zwei Wochen (10. Apr.).

Auch der Wiener Korrespondent des „Musikalischen Wochenblattes" widmete seine Aufmerksamkeit mehr der „Specialität eigener Art", dem „musikalischen Curiosum", als der künstlerischen Leistung: „Insofern man heute derlei Abnormitäten überhaupt noch goutirt, musste man Sgra. Bianchini's Tonbildung und Geläufigkeit volle Anerkennung zollen, allerdings mit dem lebhaften Bedauern, dass so viel Talent und Fleiss nicht auf ein zum Solovortrage geeigneteres Instrument verwendet worden – oder auch für Gesang" (FritzschMW 1880, S. 160). In Prag, wo Maria Bianchini am 18. März 1880 auftrat, erinnerte man sich immerhin der Flötistinnen Friederike George verh. Rousseau und Lorenzina Mayer, „die in den zwanziger und dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts auftraten" (Prager Tagblatt 10. März 1880). Dieselbe Zeitung widmet sich jedoch in ihrer Konzertbesprechung vor allem der Frage, warum eine „Dame die Flöte, das Lieblingsinstrument des großen Friedrich von Preußen, als Concertinstrument wählt. Ob dies bei der Concertgeberin aus Neigung oder in Folge äußerer Umstände geschah, ist uns nicht bekannt; jedenfalls ist es aber nach den Leistungen derselben zweifellos, daß Frl. Bianchini die Flöte zur Vertrauten ihrer einsamen Stunden auserkoren hat" (ebd. 19. März 1880). Die Montags-Revue aus Böhmen": „Die außergewöhnliche Erscheinung einer Flötenvirtuosin zog Donnerstag den 18. März ein zahlreiches und sehr distinguirtes Publicum in den Convictsaal. Fräulein Maria Bianchini, die sich der bei einer Dame so seltenen Pflege des genannten Blasinstruments gewidmet hat, behandelt dasselbe mit großer Fertigkeit, der Ansatz weiß die unschönen Mundstellungen, die Flötenspielern gewöhnlich eigen sind, zu vermeiden, dabei eine vollkommen reine und leichte Ansprache des Tones zu gewähren; der letztere klingt geschmeidig, flüssig im Passagenwerk und ohne jedes Schrillen, das sonst Metallflöten – einer solchen bedient sich die Concertistin – mit sich zu bringen pflegen" (Montags-Revue aus Böhmen 22. März 1889, S. 7).

Ein Jahr später gab die Musikerin, die neben einer Fantasie von Franz Doppler auch das Konzert As-Dur von Giulio Briccialdi und eine Fantasie von Jules Demersseman im Repertoire hatte,  am 17. Jan. ein Konzert in der Pariser Salle Érard. 1884 gastierte sie wieder in der französischen Hauptstadt, wo sie zwei Mal auftrat und dem Rezensenten des „Ménestrel“ sogleich auffiel: „Une gracieuse Vénitienne, Mme Bianchini, a joué sur la flûte, avec un joli son des pièces de Bricialdi; c’était la première fois qu’on entendait, à Paris, la flûte joueé par une artiste du sexe féminin, et l’effet a été favorable“ („Eine graziöse Venezianerin, Frau Bianchini, spielte auf der Flöte mit hübschem Ton Stücke von Briccialdi. Es war das erste Mal in Paris, daß man die Flöte von einem Künstler weiblichen Geschlechts spielen hörte, und die Wirkung ist vorteilhaft gewesen“, Le Ménestrel 1881, S. 38). Dasselbe Organ notiert etwas später: „Cette flûtiste femelle, qui embouche avec grace une flûte d’argent, comme notre ami Taffanel, mais sans doute avec moins de supériorité, a nom Maria Bianchini“ („Diese Flötistin, die mit Anmut eine silberne Flöte so an die Lippen setzt, wie unser Freund Taffanel, aber zweifellos mit weniger Klasse, heißt Maria Bianchini“, ebd., S. 174).

In der Saison 1884/85 sind noch zwei Konzerte belegt, eines in Florenz und eines in Mailand. Danach verliert sich die Spur der Künstlerin  sie scheint gegen Ende der 1880er Jahre ihr öffentliches Auftreten eingestellt zu haben.

LITERATUR

Dwight’s Journal of Music 1880, S. 61

Epoche [Wien] 18. März 1880

FritzschMW 1880, S. 160

Grazer Volksblatt 20. Jan. 1880

Le Ménestrel 1881, S. 38, 56; 1885, S. 174

Montags-Revue aus Böhmen 22. März 1880

Morgen-Post [Wien] 13. Febr. 1880

MusW 1880, S. 134

Neue Freie Presse [Wien] 18. Febr. 1880

NZfM 1880 I, S. 140; 1885 I, S. 201

Prager Tagblatt 1880, 10., 19. März

Die Presse [Wien] 1882, 31. Jan., 22. Febr.

Signale 1877, S. 969; 1878, S. 227; 1879, S. 442; 1880, S. 129, 277; 1881, S. 163; 1883, S. 323; 1884, S. 360; 1885, S. 458; 1886, S. 131

Wiener Zeitung 1. Febr. 1882

Eduard Hanslick, Concerte, Componisten und Virtuosen der letzten fünfzehn Jahre. 18701885, Berlin 21886.

Paula Gillett, Musical Women in England, 1870–1914. „Encroaching on All Man’s Privileges“, Hampshire und London 2000.

Bildnachweis

Adolph Goldberg, Portraits und Biographien hervorragender Flötenvirtuosen, Dilettanten und Komponisten, Privatdruck 1906, Portrait Nr. 37, im Besitz der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar.

 

Markus Gärtner/FH

 

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